Reiner Klingholz

Blog Bevölkerung und Entwicklung

03.06.2023

Platz da!

Die Energiewende benötigt Fläche – aber die ist eh schon knapp

Land ist eine begrenzte Ressource. Nicht nur, weil 38 Prozent der weltweiten Landflächen als Äcker und Weiden für die Ernährung von über acht Milliarden Menschen reserviert sind. Weil Straßen, Parkplätze, Wohnhäuser, Industrieanlagen und Gewerbegebiete immer mehr Platz beanspruchen. Sondern auch weil geschätzte 8,7 Milliarden Tier- und Pflanzenarten (womöglich sind es sogar bis zu 100 Milliarden) ihren eigenen, möglichst ungestörten Lebensraum benötigen. Schließlich bilden sie jenes hochvernetzte, globale Ökosystem, ohne das wir Menschen gar nicht existieren könnten. Der Ende 2021 verstorbene amerikanische Insektenforscher und Evolutionsbiologe Edward O. Wilson hat einmal gefordert, die halbe Erde unter Schutz zu stellen, also dem Einfluss des Menschen weitgehend entziehen, um zu verhindern, dass der Planet in das sechste große Massenaussterben der Erdgeschichte taumelt. Heute haben gerade einmal 8 Prozent der Meeresgebiete und 17 Prozent der Landflächen einen mehr der weniger gut funktionierenden Schutzstatus.

Doch jetzt erhöht sich der Druck auf das Land noch einmal: Der dringend notwendige Abschied von fossilen Brennstoffen erfordert eine Energiewende, um eine weitere Erwärmung des Erdklimas zu bremsen. Ohne zusätzliche Windkraftwerke und Solaranlagen in großer Zahl kann sie nicht gelingen. Der Flächenbedarf steigt also noch einmal an. Ein klassisches Dilemma: Um die Klimakatastrophe zu verhindern, werden Flächenfraß und Artensterben in Kauf genommen.

Hehre Ziele – aber schwer zu erreichen

Die EU hat sich zum Ziel gesetzt bis 2030 – also in schlappen sechseinhalb Jahren – die Kohlendioxid-Emissionen um 55 Prozent zu senken. Bis 2050 will das Vereinigte Europa klimaneutral werden. Dafür müssen bis 2030 zusätzliche rund 700 Gigawatt erneuerbarer Stromerzeugungskapazität installiert werden. Das entspricht in etwa der Leistung von 580 größeren Atomkraftwerksblöcken beziehungsweise einer Verdreifachung der Ausbaugeschwindigkeit Erneuerbarer im Vergleich zum Zeitraum 2014 bis 2022. Nach 2030 müsste der Ausbau weiter zügig vorangehen. Aber wo sollen die ganzen Wind- und Solaranlagen stehen?

Das Beratungsunternehmen McKinsey hat untersucht, welche Herausforderungen die Energiewende für die Landnutzung in der EU stellt. Allein in den Ländern Deutschland, Frankreich und Italien, wo etwa die Hälfte der neuen grünen EU-Stromquellen entstehen soll, wäre dafür eine Fläche so groß wie Belgien notwendig. Zudem muss dort verlässlich der Wind wehen beziehungsweise die Sonne scheinen. Es dürfen keine besonders geschützten Gebiete sein und der Abstand von Windturbinen zu Wohngebieten und kritischen Infrastrukturen wie Bahnlinien oder Flughäfen muss eingehalten werden.

In Deutschland kann aufgrund dieser Einschränkungen nach heutiger Regelung auf 82 Prozent der eigentlich für Windenergie geeigneten Flächen keine Turbine zum Laufen kommen. Wo großflächige Solarparks entstehen, treten sie in Konkurrenz zur Landwirtschaft, die auf Sonnenstrahlung ebenso angewiesen ist wie eine Photovoltaikzelle. Zwar gibt es die Idee der Agri-Photovoltaik, bei der Obstanbau oder Schafzucht auch unter den von Solarzellen teilbeschatteten Flächen möglich ist, doch diese Form der Stromerzeugung wird zwangsläufig ein Nischenprodukt bleiben. Die meisten Feldfrüchte brauchen in hiesigen Breiten die volle Besonnung und Mähdrescher werden kaum unter einem Solarpark zum Einsatz kommen.

Eigentlich war Flächensparen angesagt

Der Ausbau der Regenerativen gerät zudem auf Kollisionskurs mit anderen Umweltzielen der Bundesregierung. So ringt deren Nachhaltigkeitsstrategie seit ihrer Erstauflage im Jahr 2002 mit dem ausufernden Flächenverbrauch im Land. Damals verschlangen neues Bauland, Gewerbegebiete und Verkehrswege jeden Tag 120 Hektar. Sinn und Zweck der Nachhaltigkeitsstrategie waren es, diesen Flächenfraß bis 2020 radikal zurückzufahren – auf 30 Hektar pro Tag, immerhin noch eine Fläche von 42 Fußballfeldern.

Wie viele andere Umweltziele aus der Strategie wurde auch dieses verfehlt. De facto gingen auch 2020 noch jeden Tag 54 Hektar verloren, meist waren es vorherige Landwirtschaftsflächen. Das lag zum einen am mangelnden Willen von Kommunen sich an die Nachhaltigkeitsvorgaben zu halten. Zum anderen zeigt es, wie schwer es ist, übergeordnete Ziele wie Natur- und Klimaschutz in der Praxis umzusetzen – vor allem dann, wenn sie sich widersprechen: Die Energiewende, so notwendig sie ist, macht es praktisch unmöglich das Nachhaltigkeitsziel in Sachen Flächenverbrauch zu erreichen.

Immerhin gibt es Vorschläge, wie sich der Ausbau der regenerativen Energie einigermaßen schonend voranbringen ließe: Etwa für Solarenergie Flächen zu nutzen, die ohnehin schon zugebaut sind, wie Hausdächer, Parkplätze und Autobahnrandstreifen. Das Repowering von Windkraftwerken, also der Austausch alter Anlagen durch neue, leistungsstärkere, ohne dabei zusätzliche Flächen zu beanspruchen. Oder Bürgerwindparks, bei denen Kommunen wie auch Anwohner am Profit beteiligt werden. Damit lassen sich Widerstände und Proteste gegen die Anlagen minimieren, die auf der sogenannten Nimby-Mentalität beruhen. Das steht für „not in my backyard“ und beschreibt die generelle Zustimmung vieler Bürgerinnen und Bürger zu einer Energiewende nebst ihren technischen Anlagen – „aber bitte nicht in meinem Hinterhof“.

27.05.2023

Am Ende der Röhre

Weniger Primärschäden an der Umwelt anzurichten ist besser als Sekundärschäden zu beseitigen

Wer erinnert sich noch an das Waldsterben der 1980er Jahre? In den Hochlagen des Harz, im Schwarzwald und vor allem im Erzgebirge wurden die Nadelbäume braun und schütter, der Borkenkäfer gab ihnen den Rest und auf weiten Flächen ging der deutsche Forst zugrunde. Nach längerem Streit über die Ursachen des Desasters wurde klar, dass eine komplexe Wirkungskette zu dem Niedergang beigetragen hatte, die Hauptschuld aber beim Sauren Regen lag.

Was damals vom Himmel fiel, waren Tropfen, in denen sich säurebildendes Schwefeldioxid und Stickoxide angereichert hatten. Die Substanzen stammten aus den Abgasen von Kohlekraftwerken, Fabriken und Verbrennungsmotoren, also aus jenen fossilen Brennstoffen, mit denen die Industrienationen ihren wirtschaftlichen Erfolg befeuert hatten.

Die Verursacher stritten erst einmal jeden Zusammenhang zwischen den Emissionen und dem toten Wald ab. Sie bauten höhere Schornsteine als vermeintliche Problemlösung, doch die verschoben nur die giftige Fracht nach Skandinavien ‒ wo dann die Fische in den Seen starben. Bald darauf wurden die Emittenten gezwungen den Ausstoß von verbranntem Stickstoff und Schwefel massiv zu reduzieren. Hierzulande sorgte insbesondere die „Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes“ dafür, dass die Schlote Entschwefelungs- und Entstickungsanlagen verpasst bekamen, die Neuwagen Katalysatoren. Dass auch die meisten Giftschleudern der ehemaligen DDR mit dem Ende derselben ihre Emissionen beendeten, war zwar durch den Zusammenbruch des politischen Systems bedingt, aus Sicht des Umweltschutzes aber überaus hilfreich. In der Folge profitierten auch Kulturdenkmäler wie der Kölner Dom oder die Lungen der Menschen von der saubereren Luft.  Und der Wald erholte sich wieder einigermaßen, so dass Kritiker behaupteten, die ganze Aufregung um das Waldsterben sei Hysterie und völlig übertrieben gewesen.

Der Wald bleibt auf der Intensivstation

Das Problem schien gelöst. Und zwar mit technischen Mitteln. Im Ingenieurssprech: „mit einer dem eigentlichen Herstellungsprozess nachgeschalteten, additiven, ökologieorientierten Verfahrensinnovation“. Mit Filtern und Katalysatoren war es gelungen, die bei der Verbrennung von Kohle und Erdölprodukten anfallenden, unerwünschten Säurebildner weitgehend einzufangen beziehungsweise unschädlich zu machen. Das wurde als große Leistung des Umweltschutzes gefeiert.

Doch so ganz hat sich der deutsche Wald nie erholt. Mittlerweile, 40 Jahre nach dem ersten Exitus der Bäume, geht es dem Forst gesundheitlich schlechter als je zuvor. Der Waldzustandsbericht der Bundesregierung, der den durchschnittlichen Zustand von Fichte, Buche, Kiefer und Co. beschreibt, vermerkt deutliche Auflichtungen an jedem dritten Baum. Nur jeder fünfte macht einen gesunden Eindruck. Doch heute ist es weniger der Säureangriff, der für das Waldsterben 2.0 sorgt, sondern der Klimastress, also Hitze und Trockenheit. Hinzu kommt weiterhin der Stickstoffeintrag aus Quellen, aus denen er sich nicht herausfiltern lässt, vor allem aus dem Ackerbau und der Viehwirtschaft. Der Regen trägt die Stickstoffverbindungen in den Waldboden und überdüngt ihn. Dadurch wachsen die Bäume zwar schneller, werden aber anfälliger für Krankheiten. Forstschädlinge, die sich in warmen, trockenen Sommern prächtig vermehren, geben dem Wald dann den Rest. Die Fichte, die häufigste Baumart Deutschlands, für die 2022 ein neuer Absterbe-Rekord gemeldet wurde, dürfte auf Flächen unterhalb von 600 Höhenmetern keine Zukunft mehr haben.

Präventives Handeln wäre besser gewesen

Die Umweltschutzmaßnahmen vor vier Jahrzehnten konnten den Wald also doch nicht retten. Das Problem an dem vermeintlichen Erfolg war, dass es sich bei der Abgasnachbehandlung um eine sogenannte „End of the Pipe Technology“ handelte, eine Technik, die ganz am Ende des Nutzungsprozesses ansetzt. Nach dem Motto: Wir haben erkannt, dass beim Verfeuern von Kohle und Erdölprodukten ein paar eklige Nebenprodukte entstehen, die fischen wir aber am Ende des Produktionsprozesses, „am Ende der Röhre“, heraus und machen ansonsten munter weiter. Man hätte aber auch am Anfang der Röhre ansetzen und generell weniger fossile Brennstoffe einsetzen können ‒ nach dem damaligen Wissensstand in Sachen Klimawandel hätte man es sogar tun müssen. Man hätte schon in den 1980er Jahren eine Energiewende einleiten, in Energieeffizienz investieren, regenerative Versorgungsmöglichkeiten schneller erforschen und nutzen können, um sich unabhängig von Kohle, Öl und Erdgas (wie auch von despotischen und kriegstreibenden Lieferanten) zu machen. In diesem Fall wäre es ein Leichtes gewesen, noch vor 2050 klimaneutral zu werden und das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.

Umwelttechniken, die am Ende der Röhre ansetzen, sind weit verbreitet und sie beruhen auf einer menschlichen Grundeigenschaft: Der Homo sapiens ist nur wenig mit Vorsorgedenken ausgestattet, aber relativ erfinderisch darin, Methoden zu entwickeln, mit denen sich ein Schaden, der einmal angerichtet ist, wieder zusammenkehren lässt. Das ist zwar teuer und funktioniert angesichts weltumspannender Probleme immer schlechter, erfreut sich aber wachsender Beliebtheit.

So besteht eine dieser Methoden darin, Kunststoffmüll aus den Ozeanen herauszufischen. Das ist eine ziemliche Sysiphus-Arbeit. Sie vermag bei gewaltigem Aufwand nur einen unbedeutenden Bruchteil der mindestens 14 Millionen Tonnen Plastik zu bergen, die jedes Jahr in den Meeren landet. Weniger Müll in die Ozeane zu kippen wäre einfacher gewesen. Eine weitere tolle Erfindung besteht darin, Gletscher im Sommer mit Stoffbahnen aus Kunststoff abzudecken, um die schwindenden Eisströme vor der Erderwärmung zu schützen. Auch das ist weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein, zumal die Herstellung und das Ausbringen der Folien zusätzliche Kohlendioxid-Emissionen verursachen und damit die Eisschmelze eher beschleunigen als bremsen.

Wohin mit dem ganzen Kohlendioxid?

Die ultimative End of the Pipe Technology verbirgt sich hinter der Idee, das Treibhausgas Kohlendioxid, von dem die Menschheit 2022 über 35 Milliarden Tonnen in die Atmosphäre entlassen hat, wieder einzufangen, es chemisch zu nutzen, irgendwie unschädlich zu machen oder unterirdisch in geeigneten geologischen Formationen zu lagern, in der Hoffnung, dass es dort dauerhaft bleibt. Entgegen allen Vorsätzen zum Klimaschutz haben die CO2-Jahresemissionen 2022 einen neuen Rekordwert erreicht.

Weil die wachsende Menschheit nur schwer und viel zu langsam von den fossilen Brennstoffen lassen kann, scheint die CO2-Abscheidung und Speicherung mittlerweile der einzige Ausweg zu sein, den Klimawandel auch nur einigermaßen zu begrenzen. Ob sich auf diesem Weg die Emissionen wie angedacht bis 2050 auf Netto-Null reduzieren lassen, ist allerdings mehr als fraglich.

Offiziell läuft die Methode der CO2-Abscheidung und Speicherung unter der Bezeichnung „Carbon Capture, Utilization and Storage“ (CCUS). Capture, das Einfangen, bietet sich vor allem bei großen Emissionsquellen an, etwa bei Kohlekraftwerken, bei der Zement- und Ammoniakproduktion oder bei der Wasserstoffherstellung aus Erdgas. Die Abgase dieser Anlagen müssen dazu von anderen Gasen sowie Verunreinigungen befreit und unter Druck so weit heruntergekühlt werden, dass sich das CO2 verflüssigt. Anschließend kann das unerwünschte Klimagas in Pipelines (die noch gebaut werden müssen) oder besonderen Tankschiffen (die bisher Erdgas aufnehmen) dorthin transportiert werden, wo es in das Erdreich verpresst werden soll, etwa in leergepumpte Öl- oder Gasfelder. Derzeit sind etwa 15 CCUS-Knotenpunkte weltweit in der Erkundung. Das sind Orte, an denen verschiedene Unternehmen ihr CO2 abliefern können, um Kosten zu sparen und das Verfahren effizienter zu machen. Langfristig soll es einmal ein paar tausend dieser Sammelstellen geben.

Es ist offensichtlich, dass für das CCUS erst einmal eine größere Infrastruktur mit dem entsprechenden Rohstoffverbrauch aufgebaut werden muss und dass das Verfahren energieintensiv ist. Das gilt insbesondere dann, wenn das eingefangene CO2 nicht ins Erdreich entsorgt wird, sondern als sogenannter Rohstoff weiterverwendet werden soll. Denn aus dem Abgas lassen sich auf chemischem Weg wieder einfache Kohlenwasserstoffe herstellen und daraus Chemikalien, Kunststoffe oder synthetische Treibstoffe – quasi eine Umkehrung des ursprünglichen Verbrennungsprozesses. Aufgrund der thermodynamischen Gesetze muss allerdings für die Wiedergeburt der Kohlenwasserstoffe aus CO2 mehr Energie aufgewendet werden, als bei der Verbrennung frei wurde. Das Perpetuum mobile ist dummerweise noch nicht erfunden.

Damit eröffnet die End of the Pipe Technology CCUS zwar theoretisch eine Möglichkeit, CO2 von der Atmosphäre fernzuhalten, aber unter enormem Aufwand und zu hohen Kosten. Das Beratungsunternehmen McKinsey schätzt, dass sich die CO2-Einfang- und Lagerungskapazitäten bis 2050 ver120fachen müssten, damit die Welt dann pro Jahr 4,2 Milliarden Tonnen CO2 loswird. Die Investitionskosten lägen bei 130 Milliarden US-Dollar in jedem einzelnen Jahr bis zur Jahrhundertmitte. Nur so ließe sich das Null-Emissionsziel erreichen. Andere Analysen gehen sogar davon aus, dass die zweieinhalbfache Menge an CO2 unschädlich gemacht werden muss, bei entsprechender Kostensteigerung.

Den ganzen Aufwand könnte man sich allerdings auch schenken, wenn einfach keine Kohle, kein Öl und kein Erdgas mehr gefördert und verheizt würden. Das wäre mal ein vorausschauender Umweltschutz.

17.04.2023

Wenn der Klimaschutz Natur zerstört

Die Energiewende erfordert Unmengen von Rohstoffen, die oft in ökologisch wertvollen Gebieten der Entwicklungsländer gefördert werden

Die Idee ist bestechend: Wir hören Zug um Zug auf, Kohle, Öl und Erdgas zu verheizen und nutzen stattdessen jene Energiequellen, die umsonst und im Überfluss zur Verfügung stehen: Wind und Sonne helfen unsere Volkswirtschaften binnen weniger Jahrzehnte klimaneutral zu machen. Das bedeutet zwar eine Energierevolution, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Mithilfe von Windturbinen, Solaranlagen, Wasserstoff-Produktionsanlagen, Wärmepumpen und Elektrofahrzeugen wird sie aber schon gelingen. Technisch ist alles machbar.

Doch leider ist diese Energiewende zunächst einmal alles andere als umweltfreundlich. All die technischen Wunderwerke werden schließlich nicht aus Knäckebrot gebaut, sondern erfordern gewaltige Mengen an Beton und Stahl, bei deren Herstellung bekanntlich das Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) anfällt. Allein die Zementindustrie ist für rund acht Prozent der globalen CO2–Emissionen verantwortlich. Vor allem aber benötigt die energetische Transformation viele Metalle, die meist nur als Erze im Erdreich vorkommen und unter großem Energieaufwand geschürft und zu Reinmetallen raffiniert werden müssen.

In einem E-Auto sind sechsmal mehr so genannte kritische Metalle verbaut als in einem klassischen Verbrenner. Ein Windkraftwerk an Land zu errichten verschlingt neunmal mehr dieser Rohstoffe als der Bau eines herkömmlichen Gaskraftwerks. Der Abschied von der fossilen Ära bedeutet eine gewaltige Materialschlacht.

In Batterien für Elektro-Autos stecken Kobalt, Mangan, Nickel und Lithium. Die Permanentmagnete für Windturbinen und Elektromotoren benötigen seltene Erden, Elemente, die zwar nicht unbedingt selten, aber meist nur als Beimischung zu anderen Mineralien vorkommen und aufwändig zu isolieren sind. Gallium ist ein zentraler Bestandteil von Photovoltaikzellen. Platin und Palladium stecken in Katalysatoren, ohne die eine Wasserstoffsynthese nicht möglich ist. Molybdän, Selen oder Chrom sind in Brennstoffzellen notwendig, die in der Energiewende eine wichtige Rolle spielen können. Und ohne Kupfer fließt kein Strom durch die Leitungen.

Die Produktion kritischer Metalle habe sich im vergangenen Jahrzehnt bereits erheblich ausgeweitet, schreibt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Aber das ist nichts im Vergleich zum künftigen Bedarf: Weltweit dürfte sich Studien zufolge die Nachfrage nach Kupfer von jährlich 25 Millionen Tonnen im Jahr 2020 bis 2050 auf 50 Millionen Tonnen verdoppeln. Die von Lithium und Kobalt dürfte sich fast verzwanzigfachen, der von Nickel verdreißigfachen. Der wachsende Bedarf wird die Preise steigen lassen – und die Rohstoffförderer beflügeln, immer neue Minen zu eröffnen.

Outsourcing von Umweltschäden

Die meisten dieser kritischen Metalle stammen aus Ländern mit lascheren Umwelt- und Sozialstandards als in Deutschland. Berg- und Tagebau bedeuten massive Eingriffe in die Umwelt. Es kommt zu Kahlschlag am Urwald, Straßen werden durch das Land geteert, Siedlungen für die Minenarbeiter hochgezogen. Wo der Wald fehlt, erodiert das Land. Die Auswaschungen der Erzförderung gelangen in die Gewässer und vergiften sie.

Der Import der begehrten Rohstoffe für den Klimaschutz hübscht zwar die heimische Energie- und Umweltbilanz auf, er belastet aber die der Exportländer. Auch weil der Abbau im Süden ungleich zerstörerischer ist, als wenn er in den Industrieländern mit ihren strengeren Vorschriften stattfinden würde. Benedikt Sobotka, der Vorstandschef des kasachischen Bergbaukonzerns Eurasian Resources Group, hält es deshalb für verlogen, wenn sich die Menschen hierzulande ein E-Auto kaufen und Solarzellen aufs Dach schrauben, die umweltgefährdenden Bergwerke und Metallschmelzen in Indonesien, China oder Bolivien dabei aber ausblenden.

Deutschland gehört zu den größten Importeuren kritischer Metalle. Nicht nur weil hierzulande die Energiewende vorangetrieben wird, sondern auch weil wir, nach China und den USA, das Land mit der weltweit drittgrößten Ausfuhr von Gütern sind, in denen diese Metalle verbaut sind. Unsere famose Exportbilanz und die damit verbundenen Wohlstandsgewinne bauen zu einem guten Teil auf der Einfuhr von Materialien, die anderswo Umweltschäden verursachen.

Besonders problematisch wird das Outsourcing, wenn der Bergbau in ökologisch wertvollen Gebieten stattfindet. Etwa im ecuadorianischen Tal des Flusses Intag. Es liegt in der Provinz Imbabura rund 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Quito zwischen dem tropischen Tiefland und den bis zu 5.000 Meter hohen Bergen der Kordilleren, jenem Faltengebirge, das sich von Alaska über die Rocky Mountains und die Anden bis Feuerland erstreckt.

Die extremen topografischen Unterschiede machen die Intag-Region zu einem Mosaik aus Ökosystemen, mit ausgedehnten, nebelverhangenen Bergregenwäldern und einzigartiger Flora und Fauna. Die tropischen Anden zählen zu den 36 weltweiten „Biodiversitäts-Hotspots“. Das sind Gebiete von großer, aber bedrohter Artenvielfalt. Hier finden sich viele endemische Spezies, also Tiere und Pflanzen, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt, beziehungsweise bald nicht mehr geben dürfte. Denn einige der seltenen Frösche, Schlangen oder Vögel könnten demnächst aus dem Archiv der Arten verschwinden, weil die Regierung von Ecuador immer neue Schürfrechte an nationale und internationale Bergbaukonzerne vergibt.

Kupfer unter dem Regenwald

Die Jahrmillionen dauernde geologischen Auffaltung des Andenzuges hat alle möglichen mineralischen Ablagerungen in die obere Erdkruste verschoben, darunter Gold, Silber und vor allem Erze von Kupfer. Sie blieben lange unangetastet, weil das Intag-Tal abgelegen und schwer zugänglich ist. Das aber hat sich mit dem Rohstoffhunger und dem Wunsch nach Klimaschutz und Energiewende geändert.

Derzeit plant die staatliche Minengesellschaft von Ecuador Enami gemeinsam mit dem nationalen chilenischen Kupferkonzern Codelco, dem weltweit größten seiner Art, mit der Llurimagua-Mine ein drei Milliarden US-Dollar schweres Projekt zum Abbau von Kupfer und Molybdän im Intag. Auf knapp 50 Quadratkilometern soll die Natur aufgerissen werden, eine Fläche, so groß wie die fränkische Stadt Coburg. Llurimagua befindet sich in der erweiterten Erkundungsphase, 2024 könnte der Abbau beginnen. Die Explorateure versprechen sich einen Ertrag von 210.000 Tonnen Kupfer im Jahr über gut ein Vierteljahrhundert. Dafür müsste allerdings die gigantische Menge von 3,8 Milliarden Tonnen Gestein ans Tageslicht geholt werden, weil das Kupfererz lediglich 0,44 Prozent des gesuchten Metalls enthält.

Doch seit April dieses Jahres steht das Projekt auf der Kippe. Denn Ecuadors Verfassung erkennt die Natur als Rechtssubjekt an. Das ist einmalig auf der Welt und bedeutet, dass Naturräume per se schützenswert sind. Menschen können, im Namen der Natur, gegen deren Zerstörung klagen. Ein Gericht hat nun das Projekt Llurimagua erst einmal gestoppt, weil die Regierung den von der Mine betroffenen indigenen Kommunen keine Informationen zur und kein Mitspracherecht bei der Vergabe der Konzession gewährt hat, wie es eigentlich vorgeschrieben ist.

Jetzt haben die Anwälte in dem Kampf David gegen den Goliath in Gestalt der Kupferkonzerne das Sagen. Der Ausgang des Verfahrens ist offen. Entweder gewinnen die Gegner des Projektes. Dann bleiben der Umwelt im Intag tiefe Narben erspart und die Energiewende in den Industriestaaten verzögert sich oder wird zumindest teurer. Oder Schaufelbagger und Dynamit rücken dem ökologisch einzigartigen Gebiet zu Leibe, das arme Ecuador erzielt wichtige Einnahmen und der reiche Norden steuert weiter in aller Ruhe seine von grünem Strom angetriebenen SUVs durch die Lande.

08.02.2023

Einfach nur blöde

Von der gefährlichen Lücke zwischen Wissen und Handeln im Klimaschutz (und bei anderen Umweltthemen)

Die gute Nachricht zuerst: Das Wissen, welchen Effekt Treibhausgase wie Kohlendioxid, Methan oder Lachgas auf die Temperaturen der erdnahen Luftschichten haben und was ein vom Menschen verursachter Ausstoß dieser Gase für das Weltklima bedeutet, ist so groß wie nie zuvor. Es gibt kein Erkenntnisproblem. Auch das Wissen, wie die Menschheit den damit verursachten Klimawandel zumindest soweit bändigen könnte, dass sich der Anstieg der globalen Mitteltemperaturen auf 1,5 bis 2 Grad begrenzen ließe, ist vorhanden. Noch einmal: kein Erkenntnisproblem.

Immerhin spricht es für einen gewissen Realitätssinn, dass die Mehrheit der Menschheit sich Umfragen zufolge der Gefahren des menschengemachten Klimawandels bewusst ist. Was bisher jedoch fehlt, sind angemessene Reaktionen, um ihn zu begrenzen und irreversible Folgen für Menschen und Ökosysteme zu vermeiden. Die Wissenschaft kennt diese Art von Bewusstseinsspaltung als Knowing Doing Gap. Damit sind Zweifel am kumulativen Gesamtverstand der Menschheit angebracht. Immerhin steuern wir vom Holozän, einem Zeitalter mit ökologisch weitgehend stabilen Verhältnissen, unter denen die menschliche Zivilisation überhaupt erst möglich wurde, in ein neues Zeitalter, das von hoher Instabilität gezeichnet ist. Im Anthropozän wird menschliches Überleben nicht mehr wie gewohnt möglich sein.

Von der Psychologie der Untätigkeit

Warum aber, muss sich ein jeder nüchtern denkende Homo sapiens fragen, sind die Menschen so bescheuert, dass sie nicht in der Lage sind von der Erkenntnis zum Handeln zu kommen. Warum steuern sie sehenden Auges in den Untergang?

Die Frage ist nicht so komisch, wie sie klingt. Sie beschreibt das Grunddilemma unserer Spezies: Einerseits sind wir von archaischen Trieben gesteuert, die uns zwingen Bedürfnisse nach Nahrung, Wasser oder Sexualität zu befriedigen. Auch leiden wir, evolutionär bedingt, an einer Gier nach mehr und sehnen uns nach Anerkennung, was bei modernen Menschen schon einmal dazu führen kann, sich ein tonnenschweres SUV oder ein Ticket für einen Weltraumflug zu kaufen. Andererseits besitzen wir ein in der Natur einzigartiges Gehirn, das theoretisch in der Lage ist, uns ein auf dem verfügbaren Wissen aufbauendes Handeln zu ermöglichen. Ein solches Handeln könnte man als vernunftbasiert bezeichnen. Immerhin ist die Vernunft eine Eigenschaft, über die nur wir Menschen verfügen. Allerdings wusste schon Platon, dass die Vernunft stets im Wettstreit mit den zwei weiteren „Seelenteilen“ steht, der Begierde und dem Mut, und dabei häufig schlechte Karten hat. Anders ausgedrückt: Der Vernunft stehen immer die Gefühle gegenüber. Und die haben oft das letzte Wort.

Sicher ist, dass es eine ganze Reihe von Faktoren gibt, die uns davon abhalten vernünftig zu handeln. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von der Psychologie der Untätigkeit. Wie ist sie zu erklären?

Zunächst einmal ist unser Gehirn nicht primär dafür gebaut, unser Verhalten vernünftig im Sinne des Klimaschutzes zu steuern. Es hat sich im Laufe der Evolution als Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen zu jenem leistungsfähigen Organ entwickelt, das den Homo sapiens zum Dominator der Ökosphäre gemacht hat. Auf diesem Weg waren kurzfristige Erfolge und impulsive Entscheidungen wichtiger (und damit genetisch erfolgreicher) als das Nachdenken über langfristige Folgen des Handelns. Der schnelle Gewinn und die akute Gefahrenabwehr haben unseren urmenschlichen Vorfahren ein Überleben gesichert. Sie prägen uns bis heute.

Dummerweise sind diese Reaktionsweisen denkbar ungeeignet, um auf unsichtbare und nicht unmittelbar bedrohliche Probleme zu reagieren, wie den Klimawandel, das Artensterben oder neue Krankheitserreger, von denen wir lediglich wissen, dass sie einmal um sich greifen werden, aber nicht, wann und wo und mit welchen Folgen. Zudem liegen Ursache und Wirkung dieser Phänomene räumlich wie auch zeitlich weit auseinander. Auch wenn eindeutig belegbar ist, dass wir Menschen die Ursache dieser Probleme sind, tun wir uns schwer damit, sie gar nicht erst entstehen zu lassen, also vorsorglich zu handeln.

Die Macht der Gewohnheit

Wie stark wir uns immer wieder von kurzfristigem (Lust-)Gewinn steuern lassen, kann ein(e) jede(r) an sich selbst testen: Wir steigen ins Flugzeug, auch wenn wir die Klimafolgen kennen. Wir schieben den Rinderbraten in den Ofen, obwohl das Fleisch weder der eigenen Gesundheit noch dem Klima gut tut. Wir fahren Auto, auch wenn Bahn oder Rad uns umweltfreundlicher ans Ziel bringen würden. Wir tun all das, weil es einfach und möglich ist. Weil wir es immer schon getan haben. Die Macht der Gewohnheit ist schlecht für die Umwelt.

Interessanterweise sind Ressourcenverbrauch und Klimaschäden bei jenen sozialen Gruppen am höchsten, die am meisten Umweltbewusstsein und die beste Bildung aufweisen. Häufig sind das die Wählerinnen und Wähler grüner Parteien. Diese Personen denken zwar umweltverantwortlich und glauben auch so zu handeln, etwa, wenn sie ein E-Auto fahren oder Bio-Lebensmittel kaufen. Sie können sich aber aufgrund ihres überdurchschnittlichen Einkommens mehr Produkte aller Art oder Dienstleistungen wie Urlaubsreisen leisten als Ärmere. Gerade für besser Verdienende bedeutet Konsumverzicht weniger Komfort und häufig Spaßverlust.

Vermeintlich Umweltbewusste erliegen dabei gerne dem sogenannten Single Action Bias: Sie überschätzen einzelne Aktionen in ihrer Wirkung und betreiben so eine Art Greenwashing für das eigene Gewissen. Sie verzichten auch mal auf Fleisch, unterschreiben eine Petition zum Verbot von Plastikstrohhalmen, verabscheuen Wegwerfbecher, kaufen Recycling-Klopapier und haben erst einmal genug für die Umwelt getan.

Viele Unternehmen nutzen den Single Action Bias, auf den Verbraucher gerne reinfallen, in ihren Werbestrategien: Der Autohersteller, der sein SUV mit den „veganen Ledersitzen“ anpreist. Der Discounter, der „klimaneutrale“ Sneaker verkauft, die zum Teil aus recycelten PET-Flaschen bestehen. Der Touristikanbieter, der CO2-neutrale Flüge anbietet, weil er Emissionen kompensiert, etwa durch Baumpflanzungen, von denen kein Mensch weiß, wieviel CO2 sie einmal aufnehmen werden und ob sie die nächste Abholzung oder den nächsten Waldbrand überstehen. Derartige Angebote sind eine Art Ablasshandel dafür, dass die Ablasszahler mit dem Kauf eines vermeintlich umweltfreundlichen Produktes nichts an ihrem Lebensstil verändern müssen. Wenn sie wirklich umweltfreundlich handeln wollten, müssten sie auf SUV, Sneakers und Flugreise verzichten.

Ein anderer Grund für das Nichthandeln ist die so genannte Verantwortungsdiffusion: Deutschland, so das Argument, sei lediglich für zwei Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Was also bringt es, wenn wir weniger heizen, konsumieren, Auto fahren? Sollen doch erstmal die großen Emittenten in den USA, China oder Katar etwas tun. Erst mal die anderen und dann ich. Und weil die anderen nicht auf die Bremse treten, muss ich auch nichts tun.

Wer so argumentiert, denkt allerdings in zweifacher Hinsicht falsch: Erstens sind zwei Prozent der aktuellen weltweiten Emissionen eine ganze Menge, vor allem angesichts der Tatsache, dass wir Deutschen nur ein Prozent der Weltbevölkerung stellen. Damit sind wir doppelt so klimaschädlich wie der Rest der Welt. Zweitens ist Deutschland für 5,7 Prozent der kumulierten Emissionslast verantwortlich. Das sind die Emissionen, die über die Jahre entstanden sind, die heute in der Atmosphäre wabern und de facto den Klimawandel verursachen. Hierzulande jede Tonne CO2 einzusparen ist also dringend geboten.

Ignorieren, verdrängen, leugnen

George Marshall, der Chef der britischen Organisation Climate Outreach, meint, unser Gehirn sei darauf programmiert, große Menschheitsprobleme wie den Klimawandel schlichtweg zu ignorieren. Die Aufgaben seien zu groß und zu komplex. Die Erkenntnis, Mitverursacher des Problems zu sein, lähme die Menschen und führe zur kompletten Verdrängung. Sie reicht bestenfalls für ein schlechtes Gewissen. Menschen haben nur begrenzte Kapazitäten sich über multiple Krisen Sorgen zu machen. Dass wir mittlerweile alles über die Folgen des Klimawandels wissen, hilft da wenig. Im Gegenteil: Noch eine Studie zum Abschmelzen der Polkappen oder noch eine Prognose über die nächste Dürreperiode verursachen nur Ohnmachtsgefühle.

Tatsächlich sind die Herausforderungen enorm: Um dem Klimawandel Einhalt zu gebieten, reicht es nicht, wenn wir den Ölbrenner im Keller durch eine Wärmepumpe ersetzen oder das Privatauto abschaffen. Klimaschutz funktioniert nur, wenn wir – und zwar weltweit – so gut wie alles verändern: Unsere Siedlungsstrukturen, unsere Ernährung, unsere Mobilität, unsere Landwirtschaft, unseren Alltagskonsum, unser Wirtschaftsweise. Die Menschheit müsste auf dem Weg zur Klimaneutralität in kürzester Zeit eine technisch-gesellschaftliche Transformation bewältigen, die sie noch nie in der Geschichte auch nur annähernd geleistet hat. Dazu wäre ein kompletter Systemwechsel nötig, von dem wir allerdings nicht wissen, wie er konkret auszusehen hätte, wie er zu organisieren und vor allem politisch umzusetzen wäre.

Deshalb ist die Verdrängung auch auf politischer Ebene verbreitet. Bisher hat sich in Deutschland keine Partei getraut, den Menschen zu sagen, was es für sie konkret bedeuten würde, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Zwar machen sich alle Bundestags-Parteien, mit Ausnahme der AfD, mehr oder weniger für den Klimaschutz stark. Sie kommen aber über Absichtsphrasen wie grünen Wasserstoff, das Ende des Verbrennungsmotors oder eine CO2-freie Zementindustrie kaum hinaus. Diese technischen Lösungen liegen jedoch irgendwo in der Zukunft und sind zudem nicht CO2-frei, sondern bestenfalls CO2-arm. Maßnahmen, die eine sofortige Wirkung entfalten würden, etwa ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen oder eine Leistungs- und Gewichtsobergrenze für PKW, scheuen jedoch alle Parteien.

Stattdessen verschanzen sie sich hinter Absichtserklärungen, wie dem 1,5-Grad-Ziel auf der UN-Klimakonferenz in Paris oder hinter der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die klare Vorgaben in Sachen Energieverbrauch, Treibhausgasemissionen oder Flächenverbrauch macht. Ziele vorzugeben ist allerdings einfacher, als sie zu erreichen. Trotz des Vertrags von Paris laufen die von der Staatengemeinschaft angekündigten, aber bei weitem nicht eingelösten Klimaschutzbemühungen auf einen Temperaturanstieg von etwa 2,5 Grad hinaus. Auch die Kernziele der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie werden allesamt verfehlt, obwohl das Zieldatum bereits einmal verschoben wurde. Es scheint, die Ziele seien einzig dazu da, die Wählerschaft ruhig zu stellen: „Wir haben verstanden, wir tun was.“ So geht Verdrängen auf politischer Ebene.

Eine besondere Form des Verdrängens ist das Leugnen. Jeder Mensch kennt das. Wenn man ein Problem abstreitet, ist es erst einmal verschwunden. Und wenn es ein Problem gar nicht gibt, muss man auch nichts ändern. Wir bauen uns die Welt nun mal gerne so, wie sie uns gefällt. Glauben ist einfacher als Wissen und Handeln. Das gilt beispielsweise für mehr als die die Hälfte der Evangelikalen in den USA, die immerhin 25 Prozent der Gesamtbevölkerung und die wichtigsten Stammwähler der republikanischen Partei stellen. Diese Gruppe geht davon aus, dass Christus noch vor dem Jahr 2050 auf die Erde zurückkehrt. Der Heiland findet den Planeten zwar in totalem Chaos vor (das ist ja der Grund für seine Rückkehr), wird dann aber alles richten. Warum also jetzt etwas gegen den Klimawandel tun?

Gier vor Vernunft

Kriminell wird es, wenn große Unternehmen selbst verursachte Umweltschäden wider besseres Wissen leugnen. Etwa der amerikanische Mineralölkonzern Exxon (heute Exxon Mobile), dem bereits in den 1970er Jahren eigene wissenschaftliche Ergebnisse über den Effekt der Verbrennung fossiler Reserven auf globale Erwärmung vorlagen, der diesen Zusammenhang aber jahrzehntelang öffentlich abstritt. Die Exxon-Untersuchungen, die erst jüngst im Detail bekannt wurden, konnten die Klimafolgen sogar besser vorhersagen als die US-Raumfahrtbehörde Nasa, die damals eine der führenden Expertengruppen der Klimaforschung stellte. Der Exxon-Forscher James Black sagte eine Warmzeit voraus, die die Menschheit noch nicht erlebt hat.

James Hansen, Direktor des Goddard Institutes für Weltraumwissenschaften der Nasa, hatte sich 1988 weit aus dem Fenster gelehnt und vor dem amerikanischen Kongress zu Protokoll gegeben, dass die globale Erwärmung „mit 99-prozentiger Sicherheit“ auf das Konto der Menschen gehe. Hansen wurde daraufhin der Panikmache bezichtigt und von vielen Seiten massiv kritisiert, unter anderem von jenem Konzern, der es besser hätte wissen müssen. Der 2021 verstorbene niederländische Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen hat den Einfluss von Konzernen wie Exxon Mobile einmal als technisch-ökonomische Macht beschrieben, die nicht von Vernunft, sondern von Machthunger, Gier und Gewinninteressen geleitet wird. Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, hat der texanische Ölkonzern das Geschäftsjahr 2022 mit einem Gewinn von 23 Milliarden Dollar abgeschlossen ‒ das Jahr, an dem die globalen Treibhausgasemissionen einen neuen Rekordwert erreicht haben.

Auch die beste Technik wird uns nicht retten

Eine weitere Form des Verdrängens ist der alleinige Glaube an technische Lösungen. Schließlich sollte den Ingenieuren doch eine Antwort auf die drängenden Probleme wie den Klimawandel einfallen. Liefern Windturbinen und Solarzellen nicht emissionsfreie Elektrizität? Brauchen LED-Lampen nicht ungleich weniger Strom als die alten Glühbirnen? Lassen sich heutzutage nicht Häuser bauen, die mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen?

Tatsächlich sind alle drei Fragen mit „Ja“ zu beantworten. Doch dummerweise haben technische Neuerungen in der Regel einen unliebsamen Nebeneffekt, der sich Rebound oder „Rückschlag“ nennt. Denn was sich technisch durchsetzt, wird meist in großer Stückzahl produziert, dadurch billiger und häufiger gekauft. Mehr Effizienz führt praktisch immer zu stärkerer Nutzung. Das wiederum bedeutet, bei allen Einsparungen, Mehrkonsum und Mehrverbrauch von Rohstoffen aller Art.

Bestes Beispiel sind Autos, deren Motoren zwar immer effizienter werden, gleichzeitig aber größer, leistungsstärker und schwerer, mit dem Erfolg, dass Energieverbrauch und Emissionen im Verkehrssektor seit Jahren eher steigen als sinken. Oder Fernsehgeräte, die immer häufiger innovationsbedingt ausgetauscht werden und langsam das Format von Plakatwänden erreichen. Oder LED-Lampen, die deutlich weniger Strom fressen als ihre glühenden Vorgänger, aber gegen Jahresende als Lichterketten auf Balkonen und in Vorgärten erscheinen, die mit jedem Jahr ein paar Kilometer länger werden. Eine andere Form von Rebound sind die Schneekanonen gegen die wärmeren Winter oder die Klimaanlagen gegen die immer heißeren Sommertemperaturen. Letztere sind für immerhin zwölf Prozent der weltweiten Gesamtemissionen an CO2 verantwortlich.

So wichtig Effizienz und technische Neuerungen sind: Ohne Suffizienz, also Genügsamkeit, Verzicht oder Bescheidenheit ist Klimaschutz nicht möglich. Aber Suffizienz – siehe oben – also bestimmte Dinge gar nicht erst zu konsumieren, bedeutet für viele Menschen Spaßverzicht. Genau deshalb ist Klimaschutz so schwer. Weil der Spaß stärker ist als die Vernunft.

16.01.2022

Graue Welt von morgen

Weltweit altern die Gesellschaften. Segen oder Fluch?

Dass wir alle jeden Tag etwas älter werden, ist eine ziemliche Binsenwahrheit. Dass aber ganze Gesellschaften altern, ist keineswegs selbstverständlich. In vormodernen Zeiten, bis ungefähr Ende des 19. Jahrhunderts, konnten die Menschen im weltweiten Schnitt damit rechnen, gerade mal schätzungsweise 30 Jahre alt zu werden. Zudem wurden praktisch überall mehr Kinder geboren werden als ältere Menschen starben. Das hielt die Gesellschaften jung.

Heute liegt die durchschnittliche Lebenserwartung global betrachtet bei über 72 Jahren. Über die Hälfte aller Frauen der Welt bekommt weniger als 2,1 Kinder. Damit bläht sich der obere Teil der Bevölkerungspyramide (die langsam aufhört eine wirkliche „Pyramide“ zu sein) immer weiter auf, während das untere Ende langsam vor sich hin schrumpft. Das ist die Alterung der Weltgesellschaft. Und eine komplett neue Erfahrung für die Menschheit.

Bis in die Neuzeit waren die über 64-Jährigen eine unbedeutende Minderheit. 1950 machten sie immerhin schon 5 Prozent der Weltbevölkerung aus. Heute sind es gut 9 Prozent und bis 2050 dürfte sich ihr Anteil nahezu verdoppeln. Rund 1,6 Milliarden Menschen dürften dann 65 Jahre oder älter sein.

Immer besseres – und längeres Leben

In Deutschland, einem Vorreiter im demografischen Wandel, hat sich die mittlere Lebenserwartung seit dem Jahr 1900 von 45 Jahren auf gut 82 Jahre verlängert. Zu Vor-Corona-Zeiten gewannen die Menschen zwischen Rostock und dem Bodensee pro Jahrzehnt rund drei Jahre Lebenszeit hinzu. Man könnte auch sagen, dass sie mit jedem Morgen, an dem sie das Tageslicht erblickten, sechs Stunden Lebenszeit dazugewonnen haben. Kein Wunder, dass hierzulande die sogenannten Hochbetagten, die über 79-Jährigen, bis 2060 einen Bevölkerungsanteil von voraussichtlich 13 Prozent ausmachen werden. 1950 stellten sie gerade mal ein Prozent.

Die Lebenserwartung ist vermutlich der beste Querschnittsindikator für das Wohlergehen der Menschen. Sie leben länger, weil sie weniger verschleißende Arbeitsbedingungen erdulden müssen, weil sie bessere Ernährung, medizinische Versorgung, Hygiene und Wohnsituation genießen, und weil sie besser gebildet sind. Dadurch sind sie produktiver, erleben mehr Wohlstand, was wiederum die Lebenserwartung weiter steigen, die Kinderzahlen sinken und das Bevölkerungswachstum ausklingen lässt. Mit anderen Worten: Der demografische Wandel findet statt, weil es uns so gut geht. Er ist das Beste, was der Menschheit passieren kann.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der Wandel in der Bevölkerungsstruktur ist ein zweischneidiges Schwert, wie eine neue Studie des McKinsey Health Institute deutlich macht. Denn mit Alterung und Nachwuchsschwund schrumpft der Anteil der Menschen im typischen Erwerbsalter. In allen früh entwickelten Staaten und bald auch in den Schwellenländern wird die Zahl der arbeitenden Menschen, also jener, die ordentlich Steuern zahlen und im Wesentlichen die Sozialkassen finanzieren, zurückgehen, während die Ruheständler, also die Leistungsempfänger, immer mehr werden. In den wenigsten Ländern der Welt sind die Renten- und Gesundheitssysteme auf diese Unwucht eingestellt, in Deutschland schon lange nicht.

Hinzu kommt, dass die gewonnenen Lebensjahre keineswegs bedeuten, dass wir entsprechend länger fit und munter bleiben. Weltweit genießen die Menschen gegenüber 1960 rund 20 zusätzliche Jahre. Aber die Hälfte davon verbringen sie in mehr oder weniger schlechter Verfassung, sind auf medizinische Betreuung und/oder Pflege angewiesen. Das gilt vor allem für degenerative Erkrankungen des Nervensystems wie Alzheimer oder andere Formen der Demenz, die mit dem Alter zunehmen und an denen weltweit bis 2050 mindestens 150 Millionen Menschen leiden dürften. Bereits im Jahr 2020 haben demenzielle Erkrankungen rund um den Globus Kosten in Höhe von geschätzten 1,3 Billionen US-Dollar verursacht.

Billig wird die Alterung nicht

Allein daran wird deutlich, dass die Alterung mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden ist. In der öffentlichen Diskussion um diese Kosten ist in Deutschland meist von der Finanzierung des Rentensystems die Rede. Dass diesem – ohne massive Reformen – das Geld ausgeht, dürfte angesichts einer steigenden Zahl von Rentenempfängern bei gleichzeitig weniger Beitragszahlern klar sein. Eine mögliche Reform, nämlich das Renteneintrittsalter über die bisher anvisierte Grenze von 67 Jahren hinaus weiter zu erhöhen, würde das System zwar noch nicht sanieren, aber immerhin entlasten.

Die eigentliche Kostenlawine droht im Gesundheitssystem. Denn vergleichbare Reformen sind hier nicht möglich, weil das Eintreten einer altersbedingten Krankheit sich nicht einfach durch einen Gesetzesakt nach oben verschieben lässt. Auch steigen die Krankheitskosten pro Kopf, für eine medizinische Heilbehandlung wie auch für Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen, mit fortschreitendem Alter überproportional an. Zudem treiben immer neue und meist teurere Diagnose- und Behandlungsmethoden die Kosten der Gesundheitsdienste weiter in die Höhe.

Fitter alt werden schont die Sozialkassen

Um die kaum zu finanzierenden Sozialsysteme zu entlasten, empfiehlt die McKinsey-Studie eine klare Strategie: Wenn die Menschen schon älter werden, sollen sie dabei wenigstens so lange wie möglich gesund und produktiv bleiben. „Healthy ageing“ heißt das gerne benutzte Zauberwort, und das bedeutet, nicht nur Jahre an das Leben dranzuhängen, sondern diese Jahre auch mit Leben zu füllen. Und das geht am besten mit Prävention, also mit Vorsorge, um Schlimmeres zu verhindern. Sie hat den Vorteil, dass sie so gut wie nichts kostet.

Es ist aus zahllosen Studien bestens bekannt, was die Menschen länger gesund leben lässt: Bildung, soziale Kontakte, gesunde, ausgewogene Ernährung, nicht rauchen, keine Drogen, Bewegung und gute Gesundheitssysteme, die ihrerseits alles tun, um die Prävention zu fördern. Den größten Effekt hat Vorsorge, wenn sie früh im Leben beginnt, idealerweise im Kindesalter. Bildung ist zentral unter den gesundheitsfördernden Faktoren, denn Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss haben besseren Zugang zu dem Wissen darüber, welche Verhaltensweisen der Gesundheit zuträglich sind. Sie sind auch eher motiviert, dieses Wissen vorbeugend umzusetzen und können Risikofaktoren in der Regel besser
beherrschen als gering Gebildete. Prävention nach diesen Vorgaben könnte Studien zufolge die Zahl der durch Einschränkungen oder Behinderungen geprägten Lebensjahre im Alter fast um ein Drittel reduzieren.

Das wäre schön für die Betroffenen und vermiede Kosten – nicht nur für die Gesundheits-, sondern auch für die Rentensysteme. Denn nur gesunde und körperlich fitte Menschen sind in der Lage, ein höheres Renteneintrittsalter auch in Beschäftigung umzusetzen. Und je länger die Menschen beruflich aktiv sind, desto mehr profitieren die Staatsfinanzen und der Wohlstand der Gesamtbevölkerung. In Großbritannien beispielsweise ließ sich ermitteln, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit um ein Jahr das Bruttoinlandsprodukt um ein Prozent steigern würde.

Auch nach dem offiziellen Rentenalter können und sollten die meisten Menschen, so sie denn körperlich und geistig dazu in der Lage sind, wichtige Leistungen für die Gesellschaft erbringen: als Ehrenamtliche, als Unterstützer für ihre Kinder und Enkel oder als Berater auf Basis ihrer vorherigen Berufserfahrung. Diese Leistungen sind sie den jüngeren Generationen schuldig. Denn niemand kann erwarten, dass eine kleiner werdende Schar von Erwerbstätigen ohne Gegenleistung eine immer größer werdende Gruppe von Ruheständlern 20, 30 oder noch mehr Jahre finanziell versorgt.

Das allerdings müsste auch die Politik begreifen, die bislang in der Frage der Generationengerechtigkeit ihr Fähnchen stets in den demoskopischen Wind gehängt hat: Denn an der Wahlurne haben die Älteren die Mehrheit. Und die wird aufgrund des demografischen Wandels über Jahre immer größer.

12.12.2022

Boomer umziehen!

Die Jungen suchen Wohnraum, die Älteren besetzen ihn

Dass die Babyboomer, die kopfstärkste Kohorte im Altersaufbau von Deutschlands Bevölkerung, einen guten Teil des Wohlstandes in Deutschland erwirtschaftet haben, dass sie jetzt dabei sind, sich in den Ruhestand zu verabschieden und große Lücken im Arbeitsmarkt reißen und dass sie Renten- und Gesundheitssysteme unter großen Stress setzen werden, all das dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Neu in der Diskussion ist, dass sie auch noch den Wohnungsmarkt blockieren.

Denn die Babyboomer leben in Häusern und Wohnungen, die in aller Regel zu groß für sie geworden sind. Kinder, wenn vorhanden, sind längst ausgezogen. Aber wie die meisten Menschen wünschen sich auch die Boomer möglichst lange in dem angestammten Zuhause zu verbleiben, selbstbestimmt und eigenständig in vertrauter Umgebung zu altern. 96 Prozent der über 64-Jährigen in Deutschland sind zufrieden bis sehr zufrieden mit ihrer Wohnsituation. Sie fühlen sich wohl in ihren zu großen Wohnungen, auch wenn sie eigentlich mit weniger Platz zurechtkämen, was zudem deutlich umweltfreundlicher wäre.

Die Babyboomer, genau gesagt die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1970, stellen derzeit rund 30 Prozent der Bevölkerung Deutschlands. Sie sind die reichste und am besten qualifizierte Altersgruppe, die das Land je gesehen hat. Sie leben auch länger als alle Vorgängergenerationen. Vor allem aber haben sie vom Häuslebauboom der Republik profitiert: Nach dem letzten Deutschen Alterssurvey wohnen sie zu rund 60 Prozent im Eigentum.

Mehr Generationengerechtigkeit wagen

Das ist schön und gut, aber leider etwas unfair der jüngeren Generation gegenüber, die eigentlich in dem Alter ist, in dem man eine Familie gründen kann und will. Dafür braucht sie bezahlbaren, ausreichend großen Wohnraum. Und der ist knapp. Er wird nach heutigem Stand der Dinge erst wieder frei, wenn die Boomer in ein Pflegeheim umziehen müssen oder ganz auf ihre letzte Reise gehen, also in etwa 20, 30 Jahren. Das alles steht in der jüngst erschienenen Studie „Ageing in Place“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und der Körber-Stiftung.

Wie aber löst man das Dilemma auf? Die Forscher machen dazu Vorschläge: Kommunen sollten vor dem Hintergrund des Wohnungsmangels und der zunehmenden Zersiedlung der Stadtumlandgebiete Anreize für eine Umverteilung des Wohnraums schaffen, nach dem Motto „Ältere raus – Junge rein“, und zwar zum Nutzen beider: Die jungen Familien bekommen mehr Platz. Und die Alten können auf eine Wohnung hoffen, die ihren Bedürfnissen besser entspricht. Das wäre nicht nur alters-, sondern auch generationengerecht.

Denn auch die heute noch fitten Babyboomer müssen damit rechnen, dass sie irgendwann auf Unterstützung oder Pflege angewiesen sind, dass im höheren Alter ihre Sehfähigkeit abnimmt, dass Arthrose oder chronische Erkrankungen ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Dann brauchen sie ein barrierearmes oder -freies Umfeld, was die allermeisten ihrer heutigen Wohnungen und Häuser gar nicht bieten. Und oft auch die Umgebung nicht, in der sie leben.

Sie könnten dann beispielsweise aus den Vororten, die oft als reine Schlafsiedlungen geplant waren, näher an die Innenstadt ziehen, wo sich Ärzte, Apotheken, Einkaufsmöglichkeiten und Kulturangebote besser, oft sogar fußläufig erreichen lassen. Funktionierende Ortszentren bieten älteren Menschen ein deutlich besseres Lebensumfeld als die suburbanen Einfamilienhausgebiete.

Wohnungstausch attraktiver machen

Noch stehen diesem konzertierten Umzug ein paar Hindernisse im Weg. Städte und Gemeinden können attraktive Wohnungen für Ältere nur anbieten, wenn diese im kommunalen Besitz sind. Der Immobilienmarkt ist im Wesentlichen privatwirtschaftlich organisiert. Dennoch können Kommunen handeln: Sie können barrierefreie Um- und Neubauten vorantreiben, indem sie beraten und helfen. Zum Beispiel, indem sie Pflegestützpunkte vor Ort einbinden, bestehende Wohnberatungsstellen unterstützen oder sogar ein eigenes städtisches Büro einrichten. Zudem können sie Bauland oder Sanierungsgebiete ankaufen und bevorzugt an Investoren oder Baugruppen mit alters- und generationengerechten Konzepten weiterreichen.

Zudem müsste es für die Boomer attraktiver werden ihre bestehenden Wohnungen aufzugeben oder an jüngere zu vermieten. Wenn sie zur Miete wohnen, ziehen sie schon deshalb ungerne aus, weil die Bestandsmieten meist günstiger sind als das, was eine andere, kleinere und barrierefreie Wohnung kosten würde. Jüngere zahlen im Schnitt mehr pro Quadratmeter als Ältere. Babyboomer, die ihr zu groß gewordenes Eigenheim oder die Eigentumswohnung vermieten und in eine kleinere Wohnung umziehen wollen, zahlen auf die Mieteinnahmen Steuern, können die Kosten für die neue Behausung aber nicht absetzen. Hier müsste sich der Gesetzgeber neue Lösungen einfallen lassen.

Vor allem sollten die Kommune ihre Bürgerinnen und Bürger im Babyboomeralter informieren und beraten. Über die Herausforderungen des Älterwerdens, aber auch über die Angebote in Sachen Wohnen, Freizeit und Mobilität, über Gesundheit, Pflege und Organisationen, die Unterstützung anbieten. Die Stadt Zürich beispielsweise macht so etwas schon länger. Sie gibt über die Website „Zürich im Alter“ eine Übersicht über das städtische, private und gemeinnützige Wohnangebot in Zürich. Interessierte können sich für alle städtischen Wohnmöglichkeiten, von der altengerechten Wohnung bis zum Pflegeplatz, zentral anmelden. Fachpersonal von „Zürich im Alter“ zeigt Möglichkeiten, wie sich auch im Alter eine selbstbestimmte Alltagsbewältigung in der gewohnten Umgebung bestmöglich gewährleisten lässt.

05.12.2022

Wie schief ist das denn?

Das Land der Fußball-WM hat die größte Bevölkerungsunwucht der Welt

Bekanntlich findet derzeit in Katar, dem in einer lebensfeindlichen Wüste gelegenen Emirat am Persischen Golf, das Gipfeltreffen der weltbesten Fußballmannschaften statt. Dass die deutschen Kicker sich früh aus dem Geschehen zurückgezogen haben, mag wenig überraschen. Ebenso wenig, dass auch die Katarer ihr Spielgeschehen schon nach fünf Stunden eingestellt haben.

Erstaunlich ist eher, dass die Gastgeber überhaupt eine Mannschaft zusammenbekommen haben. Denn es gibt gerade einmal etwa 23.000 männliche Katarer zwischen 20 und 34 Jahren, also in dem Alter, in dem man sich üblicherweise das Trikot einer Nationalmannschaft überstreift.

Katar ist das mit Abstand bevölkerungsärmste Land, das je eine Fußball-WM ausgerichtet hat. Noch 1950 lebten dort gerade mal 50.000 Menschen, als nomadisierende Beduinen oder Seefahrer, perfekt angepasst an die harschen Lebensbedingungen einer trockenen und heißen Region. Heute sind es rund 300.000, jedenfalls, wenn man jene zählt, die das Privileg haben, einen katarischen Pass zu besitzen und von großzügigen staatlichen Leistungen zu profitieren. Tatsächlich aber leben in dem Emirat fast drei Millionen Menschen. 88 Prozent der Bevölkerung sind Fremdarbeiter aus anderen Ländern. Sie besitzen deutlich weniger Rechte als die Minderheit der angestammten Katarer.

Wegen der Zuwanderung wächst die Bevölkerung des Emirates so schnell wie sonst nur in ganz armen Ländern. Ein kleiner Teil der Zugewanderten, häufig solche aus westlichen Ländern und aus Ostasien, arbeitet im Hochlohnsektor, als Ingenieure, Ärzte oder Manager. Die Mehrheit, rund 800.000 der angeworbenen Ausländer, die vor allem aus Indien, Bangladesch, den Philippinen, Ägypten und Sri Lanka stammen, schuftet auf den zahllosen Baustellen. Weitere sind als Putzkräfte und Wachmänner angestellt.

Nirgendwo auf der Welt ist der Männerüberschuss größer

Katar ist dank seiner Erdölvorkommen und des größten Erdgasfeldes der Welt unvorstellbar reich. Es kann sich nicht nur acht aus dem Boden gestampfte Fußballstadien leisten, die nach der Weltmeisterschaft leer stehen oder abgerissen werden, sondern auch den im Meer aufgeschütteten Hamad International Airport mit überlangen Landepisten, die Doha Metro oder die künstliche Insel „The Pearl“ mit Luxushotels, Shopping Malls und Villen.

Die Arbeitskräfte, die all dies hochgezogen haben und die auch noch Lusail City bauen sollen, eine im Bau befindliche Retortenstadt auf 21 Quadratkilometern Fläche für 450.000 Bewohner, sind überwiegend männlich und zwischen 25 und 35 Jahre alt. Eben solche Männer, die man überall auf Baustellen findet. Sie arbeiten aber nicht nur, sondern sorgen auch dafür, dass Katar die größte Bevölkerungsunwucht der Welt hat: In dem Emirat kommen auf eine Frau 3,4 Männer. Das Geschlechterungleichgewicht sorgt für eine gewaltige Beule in der Bevölkerungspyramide.

Von Pyramide keine Spur
In den meisten Ländern herrscht in der Bevölkerung ein einigermaßen ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Nicht so in Katar. Weil fast 90 Prozent der Bewohner Ausländer sind, die zum Arbeiten angeworben wurden, und weil die meisten Jobs im Bausektor angeboten werden, herrscht ein gewaltiger Überschuss an Männern. Wenn sie keine Arbeit mehr haben, müssen sie das Land verlassen. Deshalb sind in Katar fast 83 Prozent der Gesamtbevölkerung im Erwerbsalter – das ist Weltrekord.

 

Was bedeutet das für Katar – über die Frage der Menschenrechte hinaus? Mit dieser Unwucht lässt sich kaum ein funktionierender Staat machen. Sie steht eher für ein Apartheid-ähnliches System, für eine Gesellschaft, in der ein Großteil der Bevölkerung als Dienstleister malocht und der Rest in Saus und Braus lebt. Tatsächlich streicht das wohlhabendste Prozent der Bevölkerung 23,6 Prozent des nationalen Einkommens ein. Für die ärmere Hälfte bleiben gerade mal 2,1 Prozent des Wohlstands.

Katar lebt erst seit wenigen Jahrzehnten in der Phase des rohstoffgetriebenen Booms. Die Frage ist, wie das Land weiterexistieren kann, wenn die Welt sich löst von ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Glaubt man den angekündigten Klimaschutzbemühungen im Pariser Abkommen, müsste das schon sehr bald der Fall sein.

Das Emirat will sein Geld bis dahin mit Handel, Finanzdienstleistungen, Informationstechnologie, medizinischen Luxusbehandlungen und Forschung verdienen. Dann bräuchte das Land allerdings auch einen anderen Bevölkerungsaufbau und vor allem andere Qualifikationen der Mehrheit seiner Bewohner.

24.11.2022

Putins demografisches Harakiri

Russland verliert Hunderttausende junger Männer – und damit seine Zukunft

Das flächenmäßig größte Land der Erde ist ziemlich dünn besiedelt. Gerade einmal 8,5 Menschen leben im Schnitt auf einem Quadratkilometer in dem Riesengebiet zwischen St. Petersburg und Wladiwostok. In Deutschland teilen sich 240 Menschen die gleiche Fläche. Im Reich der Zaren und Möchtegern-Zaren dürfte es künftig noch einsamer werden. Aufgrund niedriger Geburtenziffern und einer hohen Sterblichkeit vor allem unter Männern begann die Bevölkerung schon von 1994 an zu schrumpfen. Sie wuchs dann zwar wieder leicht von 2009 bis 2019, folgt seither aber wieder einem Abwärtstrend.

Bevölkerungsprojektionen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung beschleunigt fortsetzt und Russland bis 2050 rund acht Millionen Einwohner verlieren dürfte. Nur China und Japan haben weltweit mit noch größeren zahlenmäßigen Verlusten zu rechnen. In den kommenden Jahren werden in Russland die Sterbefälle aufgrund der gealterten Bevölkerung deutlich zunehmen und die Geburten abnehmen. Allerdings sind diese Projektionen viel zu optimistisch, denn sie stammen aus der Zeit vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Seither hat sich die demografische Lage der Atommacht noch einmal stark verschlechtert.

Gleich nach Beginn des Überfalls auf das Nachbarland haben sich geschätzte 300.000 Personen ins Ausland abgesetzt, vor allem junge, gut qualifizierte Menschen, die in ihrer Heimat keine Chance mehr sahen ihre Fähigkeiten sinnstiftend einzubringen. Weitere 200.000 folgten bis Mitte August. Rund 400.000 Männer haben sich zusätzlich aus Russland verabschiedet, als ihnen über die Mobilmachung die Einberufung in den Militärdienst und der Einsatz an der Front drohte. Nach Schätzungen amerikanischer Militärkreise sind zudem über 100.000 Männer im Krieg gefallen oder wurden schwer verletzt. Das macht in der Summe einen Verlust von rund einer Million Menschen binnen neun Monaten für ein Land, das während der Corona-Pandemie bereits etwa 400.000 zusätzliche Tote zu beklagen hatte.

Keine Stabilität in Sicht

Es ist nicht zu erwarten, dass Russland der demografischen Abwärtsspirale entkommen kann. Denn künftige Geburten können die demografischen Lücken nicht wieder füllen. Dafür fehlen schlicht und einfach die potenziellen Eltern. Die Zahl der Frauen in dem Alter, in dem sie Kinder bekommen können, ist im vergangenen Jahrzehnt um ein Drittel zurückgegangen. Das ist eine Spätfolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der damit verbundenen Wirtschaftskrise. Damals waren die Geburtenziffern auf ein historisches Tief abgesackt. Zum Höhepunkt der Krise im Jahr 1999 lag die Fertilitätsrate nur noch bei 1,2 Kindern je Frau. 2,1 Kinder wären nötig, um mittelfristig eine Bevölkerung zu stabilisieren.

Landesweit fehlt es überdies an Männern, um Familien zu gründen. Das ist kein neues Phänomen für Russland, denn schon der Zweite Weltkrieg hatte die Zahl der Männer dezimiert. Über die Epoche der Sowjetunion und danach starben überproportional viele Männer vor ihrer Zeit – durch Unfälle, Gewalteinwirkungen und vor allem durch Alkoholmissbrauch. In kaum einem anderen Land der Welt liegt die Lebenserwartung der Geschlechter weiter auseinander als in Russland. Männer sterben im Schnitt 10 Jahre früher als Frauen. Mit nur 66 Jahren liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von russischen Männern fünf Jahre unter der von Bangladeschern.

Selbst die Soldaten, die aus dem Kampfzonen zurück nach Russland kommen, sind nicht die idealen Familiengründer. Viele sind verletzt, haben mit Traumata zu kämpfen und greifen zu Wodka, dem traditionellen nationalen Beruhigungsmittel. Und wie schon nach den russischen Feldzügen gegen Afghanistan und gegen Tadschikistan dokumentiert, tragen sie häufig ihre kriegsbedingten Gewalterfahrungen in den Alltag und werden kriminell.

Menschenklau gegen eigene Bevölkerungsverluste

Ein Grund Putins für den Überfall auf das Nachbarland, der schon 2014 mit der Annexion der Krim begonnen hatte, dürfte gewesen sein, dass er Russlands schrumpfende Bevölkerungszahl mit den knapp 44 Millionen Bewohnern der Ukraine auffrischen wollte. Nach seiner Vorstellung sind Russen und Ukrainer ohnehin „ein Volk“ und er der eine auserwählte Führer. Bereits die Einverleibung der Krim brachte der russischen Einwohnerstatistik ein Plus von 2,5 Millionen. Bekanntlich läuft die weitere Übernehme des ukrainischen „Brudervolkes“ nicht gerade nach Plan. Aber immerhin hat Russland aus den vorübergehend besetzten Gebieten Abertausende Menschen deportiert und mit russischen Pässen versehen, es hat Kinder verschleppt und zur Adoption freigegeben.

Es ist bekannt, dass Putin über den schleichenden demografischen Abstieg seines Landes zutiefst frustriert ist. Lag die 1991 untergegangene Sowjetunion mit ihren 287 Millionen Einwohnern nach China und Indien noch auf Platz drei der bevölkerungsreichsten Länder der Erde, vor allem aber vor dem großen Konkurrenten USA, so ist das heutige Russland mit seinen 145 Millionen Menschen auf Platz neun abgerutscht – hinter Länder wie Pakistan, Nigeria oder Bangladesch. Bis 2050 dürfte Russland auf Platz 14 oder 15 durchgereicht sein, selbst das ostafrikanische Tansania könnte dann mehr Einwohner zählen. Schon heute fehlen dem Land Arbeitskräfte, aber auch Menschen, die das Riesenreich mit seinen 22.400 Kilometern Landesgrenzen militärisch absichern könnten.

Das sind schlechte Aussichten für einen Mann mit imperialen Großmachtsfantasien. Putins Antwort auf die russische Bevölkerungskrise war denn auch eine pronatalistische Politik. So ließ er einst den „Tag der Empfängnis“ ausrufen. Er war arbeitsfrei und mit der Aufforderung verbunden, den Nachmittag zum Kopulieren zu nutzen. Auch gab es Sommerfrischeangebote für junge Erwachsene, bei denen sie in Zelten übernachten konnten – allerdings ohne Kondome. Der Mutterschaftsurlaub wurde verlängert und es gab Babyprämien für Mütter, die mehr als ein Kind bekamen. Bis zu umgerechnet 12.000 US-Dollar konnten die Familien einstreichen, was speziell in den entlegenen Landesteilen eine nennenswerte Summe war. Noch 2012 proklamierte Putin, „der Staat, die Gesellschaft, die Kirchen, das Bildungssystem und die Kultur“ sollten sich zusammentun, um „starke, glückliche Familien mit vielen Kindern“ zu erzeugen.

Tatsächlich stieg die Geburtenziffer wieder an, allerdings nur vorübergehend. Für Experten wie den Moskauer Demografen Sergei Zakharow beruhte der vorübergehende kleine Babyboom auf einem klaren Mitnahmeeffekt: Viele Familien zogen das Kinderkriegen lediglich vor, um an die Prämie zu kommen. Auf lange Sicht aber bekamen sie nicht mehr Nachwuchs. Wieder einmal war Russland mit seinen planwirtschaftlichen Vorgaben gescheitert.

Noch schlimmer getroffen: die Ukraine

Während Russland wenigstens versucht mit viel Aufwand und wenig Erfolg seine Bevölkerung aufzufrischen, sind solche Bestrebungen im Nachbarland Ukraine weitgehend ausgeblieben. Politische und wirtschaftliche Verwerfungen und ein mittlerweile achtjähriger Krieg um die Gebiete Luhansk und Donezk haben die demografischen Probleme an den Rand gedrängt. Dabei ist die Lage noch schwieriger als in Russland.

Die Geburtenziffer liegt seit dem Jahr 1963 fast durchgängig unter dem bestanderhaltenden Wert von 2,1 Kinder je Frau, derzeit nur noch bei 1,2 Kindern, einem der niedrigsten Werte weltweit. Um die Lebenserwartung der Männer steht es nicht viel besser als in Russland. Auf eine Geburt kommen in der Ukraine derzeit mehr als zwei Sterbefälle. Die Abwanderung ist seit vielen Jahren aufgrund der prekären Wirtschaftslage hoch. Millionen von in der Ukraine geborenen Menschen leben in Russland, Kanada, Polen und den USA. Von den 52 Millionen Einwohnern zum Ende der Sowjetunion sind heute nach offiziellen Angaben noch 41 Millionen übrig, auch weil die Bewohner der Krim nicht mitgezählt sind. Wie viele es in Wirklichkeit sind, lässt sich schwer ermitteln, weil unklar ist, wie viele der rund 15 Millionen vor dem Krieg Geflüchteten wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Knapp 8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind europaweit als Geflüchtete registriert. Damit hätte das Land, das flächenmäßig immerhin 1,7-mal so groß ist wie Deutschland, nur noch 33 Millionen Einwohner. Kein Land der Welt hat in der jüngeren Vergangenheit relativ gesehen mehr Menschen verloren.

Einzig ein Nachkriegs-Babyboom in der Ukraine könnte die demografische Krise wieder etwas abfedern. So etwas gab es nach Konflikten immer wieder, wenn die Menschen nach der Phase des Leids endlich wieder hoffnungsvoll nach vorne blicken können. Wenn sie ihre Zukunft mit einer Familiengründung aufhellen wollen und aufgeschobene Kinderwünsche in die Tat umsetzen. Anwachsen wird die Bevölkerung dadurch aber dennoch nicht.

Das flächenmäßig größte Land der Erde ist ziemlich dünn besiedelt. Gerade einmal 8,5 Menschen leben im Schnitt auf einem Quadratkilometer in dem Riesengebiet zwischen St. Petersburg und Wladiwostok. In Deutschland teilen sich 240 Menschen die gleiche Fläche. Im Reich der Zaren und Möchtegern-Zaren dürfte es künftig noch einsamer werden. Aufgrund niedriger Geburtenziffern und einer hohen Sterblichkeit vor allem unter Männern begann die Bevölkerung schon von 1994 an zu schrumpfen. Sie wuchs dann zwar wieder leicht von 2009 bis 2019, folgt seither aber wieder einem Abwärtstrend.

Bevölkerungsprojektionen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung beschleunigt fortsetzt und Russland bis 2050 rund acht Millionen Einwohner verlieren dürfte. Nur China und Japan haben weltweit mit noch größeren zahlenmäßigen Verlusten zu rechnen. In den kommenden Jahren werden in Russland die Sterbefälle aufgrund der gealterten Bevölkerung deutlich zunehmen und die Geburten abnehmen. Allerdings sind diese Projektionen viel zu optimistisch, denn sie stammen aus der Zeit vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Seither hat sich die demografische Lage der Atommacht noch einmal stark verschlechtert.

Gleich nach Beginn des Überfalls auf das Nachbarland haben sich geschätzte 300.000 Personen ins Ausland abgesetzt, vor allem junge, gut qualifizierte Menschen, die in ihrer Heimat keine Chance mehr sahen ihre Fähigkeiten sinnstiftend einzubringen. Weitere 200.000 folgten bis Mitte August. Rund 400.000 Männer haben sich zusätzlich aus Russland verabschiedet, als ihnen über die Mobilmachung die Einberufung in den Militärdienst und der Einsatz an der Front drohte. Nach Schätzungen amerikanischer Militärkreise sind zudem über 100.000 Männer im Krieg gefallen oder wurden schwer verletzt. Das macht in der Summe einen Verlust von rund einer Million Menschen binnen neun Monaten für ein Land, das während der Corona-Pandemie bereits etwa 400.000 zusätzliche Tote zu beklagen hatte.

Keine Stabilität in Sicht

Es ist nicht zu erwarten, dass Russland der demografischen Abwärtsspirale entkommen kann. Denn künftige Geburten können die demografischen Lücken nicht wieder füllen. Dafür fehlen schlicht und einfach die potenziellen Eltern. Die Zahl der Frauen in dem Alter, in dem sie Kinder bekommen können, ist im vergangenen Jahrzehnt um ein Drittel zurückgegangen. Das ist eine Spätfolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der damit verbundenen Wirtschaftskrise. Damals waren die Geburtenziffern auf ein historisches Tief abgesackt. Zum Höhepunkt der Krise im Jahr 1999 lag die Fertilitätsrate nur noch bei 1,2 Kindern je Frau. 2,1 Kinder wären nötig, um mittelfristig eine Bevölkerung zu stabilisieren.

Landesweit fehlt es überdies an Männern, um Familien zu gründen. Das ist kein neues Phänomen für Russland, denn schon der Zweite Weltkrieg hatte die Zahl der Männer dezimiert. Über die Epoche der Sowjetunion und danach starben überproportional viele Männer vor ihrer Zeit – durch Unfälle, Gewalteinwirkungen und vor allem durch Alkoholmissbrauch. In kaum einem anderen Land der Welt liegt die Lebenserwartung der Geschlechter weiter auseinander als in Russland. Männer sterben im Schnitt 10 Jahre früher als Frauen. Mit nur 66 Jahren liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von russischen Männern fünf Jahre unter der von Bangladeschern.

Selbst die Soldaten, die aus dem Kampfzonen zurück nach Russland kommen, sind nicht die idealen Familiengründer. Viele sind verletzt, haben mit Traumata zu kämpfen und greifen zu Wodka, dem traditionellen nationalen Beruhigungsmittel. Und wie schon nach den russischen Feldzügen gegen Afghanistan und gegen Tadschikistan dokumentiert, tragen sie häufig ihre kriegsbedingten Gewalterfahrungen in den Alltag und werden kriminell.

Menschenklau gegen eigene Bevölkerungsverluste

Ein Grund Putins für den Überfall auf das Nachbarland, der schon 2014 mit der Annexion der Krim begonnen hatte, dürfte gewesen sein, dass er Russlands schrumpfende Bevölkerungszahl mit den knapp 44 Millionen Bewohnern der Ukraine auffrischen wollte. Nach seiner Vorstellung sind Russen und Ukrainer ohnehin „ein Volk“ und er der eine auserwählte Führer. Bereits die Einverleibung der Krim brachte der russischen Einwohnerstatistik ein Plus von 2,5 Millionen. Bekanntlich läuft die weitere Übernehme des ukrainischen „Brudervolkes“ nicht gerade nach Plan. Aber immerhin hat Russland aus den vorübergehend besetzten Gebieten Abertausende Menschen deportiert und mit russischen Pässen versehen, es hat Kinder verschleppt und zur Adoption freigegeben.

Es ist bekannt, dass Putin über den schleichenden demografischen Abstieg seines Landes zutiefst frustriert ist. Lag die 1991 untergegangene Sowjetunion mit ihren 287 Millionen Einwohnern nach China und Indien noch auf Platz drei der bevölkerungsreichsten Länder der Erde, vor allem aber vor dem großen Konkurrenten USA, so ist das heutige Russland mit seinen 145 Millionen Menschen auf Platz neun abgerutscht – hinter Länder wie Pakistan, Nigeria oder Bangladesch. Bis 2050 dürfte Russland auf Platz 14 oder 15 durchgereicht sein, selbst das ostafrikanische Tansania könnte dann mehr Einwohner zählen. Schon heute fehlen dem Land Arbeitskräfte, aber auch Menschen, die das Riesenreich mit seinen 22.400 Kilometern Landesgrenzen militärisch absichern könnten.

Das sind schlechte Aussichten für einen Mann mit imperialen Großmachtsfantasien. Putins Antwort auf die russische Bevölkerungskrise war denn auch eine pronatalistische Politik. So ließ er einst den „Tag der Empfängnis“ ausrufen. Er war arbeitsfrei und mit der Aufforderung verbunden, den Nachmittag zum Kopulieren zu nutzen. Auch gab es Sommerfrischeangebote für junge Erwachsene, bei denen sie in Zelten übernachten konnten – allerdings ohne Kondome. Der Mutterschaftsurlaub wurde verlängert und es gab Babyprämien für Mütter, die mehr als ein Kind bekamen. Bis zu umgerechnet 12.000 US-Dollar konnten die Familien einstreichen, was speziell in den entlegenen Landesteilen eine nennenswerte Summe war. Noch 2012 proklamierte Putin, „der Staat, die Gesellschaft, die Kirchen, das Bildungssystem und die Kultur“ sollten sich zusammentun, um „starke, glückliche Familien mit vielen Kindern“ zu erzeugen.

Tatsächlich stieg die Geburtenziffer wieder an, allerdings nur vorübergehend. Für Experten wie den Moskauer Demografen Sergei Zakharow beruhte der vorübergehende kleine Babyboom auf einem klaren Mitnahmeeffekt: Viele Familien zogen das Kinderkriegen lediglich vor, um an die Prämie zu kommen. Auf lange Sicht aber bekamen sie nicht mehr Nachwuchs. Wieder einmal war Russland mit seinen planwirtschaftlichen Vorgaben gescheitert.

Noch schlimmer getroffen: die Ukraine

Während Russland wenigstens versucht mit viel Aufwand und wenig Erfolg seine Bevölkerung aufzufrischen, sind solche Bestrebungen im Nachbarland Ukraine weitgehend ausgeblieben. Politische und wirtschaftliche Verwerfungen und ein mittlerweile achtjähriger Krieg um die Gebiete Luhansk und Donezk haben die demografischen Probleme an den Rand gedrängt. Dabei ist die Lage noch schwieriger als in Russland.

Die Geburtenziffer liegt seit dem Jahr 1963 fast durchgängig unter dem bestanderhaltenden Wert von 2,1 Kinder je Frau, derzeit nur noch bei 1,2 Kindern, einem der niedrigsten Werte weltweit. Um die Lebenserwartung der Männer steht es nicht viel besser als in Russland. Auf eine Geburt kommen in der Ukraine derzeit mehr als zwei Sterbefälle. Die Abwanderung ist seit vielen Jahren aufgrund der prekären Wirtschaftslage hoch. Millionen von in der Ukraine geborenen Menschen leben in Russland, Kanada, Polen und den USA. Von den 52 Millionen Einwohnern zum Ende der Sowjetunion sind heute nach offiziellen Angaben noch 41 Millionen übrig, auch weil die Bewohner der Krim nicht mitgezählt sind. Wie viele es in Wirklichkeit sind, lässt sich schwer ermitteln, weil unklar ist, wie viele der rund 15 Millionen vor dem Krieg Geflüchteten wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Knapp 8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind europaweit als Geflüchtete registriert. Damit hätte das Land, das flächenmäßig immerhin 1,7-mal so groß ist wie Deutschland, nur noch 33 Millionen Einwohner. Kein Land der Welt hat in der jüngeren Vergangenheit relativ gesehen mehr Menschen verloren.

Einzig ein Nachkriegs-Babyboom in der Ukraine könnte die demografische Krise wieder etwas abfedern. So etwas gab es nach Konflikten immer wieder, wenn die Menschen nach der Phase des Leids endlich wieder hoffnungsvoll nach vorne blicken können. Wenn sie ihre Zukunft mit einer Familiengründung aufhellen wollen und aufgeschobene Kinderwünsche in die Tat umsetzen. Anwachsen wird die Bevölkerung dadurch aber dennoch nicht.

22.09.2022

Fläche wird ein knappes Gut

Trotz hehrer Ziele schafft es Deutschland nicht, die Zubetonierung der Landschaft zu stoppen. Warum eigentlich?


Es klingt wie eines der ungelösten Rätsel der Menschheitsgeschichte: Warum beansprucht Deutschlands Bevölkerung immer mehr Fläche, obwohl die Einwohnerzahl des Landes seit rund 30 Jahren kaum mehr gewachsen ist? Tatsächlich brauchen die aktuell gut 83 Millionen Menschen stetig mehr Platz für Straßen und Parkplätze, für Bürogebäude und einen Gewerbebrei aus Einkaufszentren, Logistikhallen und Freizeitstätten, für Einfamilienhäuser mit ästhetisch begrenzter Halbwertszeit und für eintönige Schottervorgärten, in denen die Artenvielfalt gegen Null tendiert.

In den vergangenen Jahren fraß sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche zwischen Rügen und dem Bodensee um durchschnittlich 54 Hektar in die Landschaft – und zwar pro Tag. Das entspricht einer täglichen Fläche von 75 Fußballfeldern oder 200 Quadratkilometern im Jahr. Damit hat die Bevölkerung ihre Flächeninanspruchnahme in den letzten drei Jahrzehnten um 30 Prozent vergrößert. Der Platz für Wohnen, Arbeiten und Mobilität ging im Wesentlichen zu Lasten der Agrarflächen, denn der Wald steht in Deutschland unter besonderem Schutz. „Flächenverbrauch“ bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass Böden komplett unter Asphalt oder Beton verschwinden. Auch wenn ungenutzte Flächen in Parkanlagen, Sportstätten, Spielplätze oder Friedhöfe umgewandelt werden, gelten sie als „verbraucht“.

Während es zu früheren Zeit noch offizielles Staatsziel war, vor allem ländliche Gebiete zu „erschließen“ und dafür Straßen- und Eigenheimbau üppig zu fördern, ist mittlerweile klar, dass freie Flächen und natürliche Böden begrenzte, nicht nachwachsende Güter sind, die es entsprechend zu schützen gilt. Doch dabei herrscht ein massiver Interessenkonflikt zwischen Landwirtschaft, Umweltschutz, Häuslebauern und Wirtschaft: Einerseits dient der Ackerbau der Ernährungssicherung, liefert nachwachsende Rohstoffe und ist auf intakte, fruchtbare Böden angewiesen. Für den Arten-, Natur- und Klimaschutz sind möglichst viele ungestörte, unzerschnittene und verkehrsarme Naturräume notwendig. Andererseits weisen Kommunen immer neues Bauland aus, um Einwohner und Steuerzahler anzulocken. Und Unternehmen benötigen Straßen und Gewerbeflächen, unter anderem für Wind- und Solarkraftwerke, mit denen die Energiewende bewältigt und der Klimawandel eingedämmt werden sollen. Spätestens hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn der anhaltende Flächenverbrauch führt zu immer mehr versiegelten Flächen. Die speichern die Sommerhitze und behindern das Versickern von Niederschlägen, begünstigen also Hochwasser und machen immer verletzlicher gegen die Folgen der Erderwärmung.

Problem erkannt – Ziele gesetzt – aber nichts erreicht

Die Bundesregierung hat diesen Interessenkonflikt bereits im Jahr 2002 erkannt und damals, noch unter dem Kanzler Gerhard Schröder und dem grünen Umweltminister Jürgen Trittin, ihre erste nationale Nachhaltigkeitsstrategie mit dem Titel „Perspektiven für Deutschland“ verabschiedet. Darin stand geschrieben, dass sich der tägliche Flächenverbrauch von damals über 120 Hektar bis 2020 auf 30 Hektar reduzieren sollte, also auf ein Viertel des ursprünglichen Wertes.

Doch wie häufig bei politischen Absichtserklärungen war die Nachhaltigkeitsstrategie alles andere als eine wirkliche Strategie. Eine solche nämlich müsste deutlich machen, mit welchen Eingriffen und Maßnahmen die gesetzten Ziele unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel und Möglichkeiten zu erreichen sind. Sie müsste die Aufgaben klar verteilen, Regeln und Vorgaben für bestimmte Zeitabschnitte aufstellen und zwischenzeitlich evaluieren, ob die Ziele auch erreicht werden, um dann gegebenenfalls nachzujustieren.

Nichts davon hat die Nachhaltigkeitsstrategie geleistet. Sie war nicht viel mehr als eine nett gemeinte Aufforderung den Flächenfraß zu bremsen. Aus ihr ging keinerlei Verbindlichkeit hervor, es gab bei Nichterreichen der Ziele keinerlei Sanktionsmöglichkeiten. Es war nicht einmal klar, an wen sie sich richtete, an Kommunen, die Bundesländer oder an die Bundesregierung? Nachhaltigkeit blieb ein freiwilliges Konzept. Als Folge dieser Wünsch-dir-was-Politik lag der tägliche Flächenverbrauch im Zieljahr 2020 um 80 Prozent über dem zuvor als notwendig anerkannten Zielwert. Nicht viel besser sah es bei weiteren Vorgaben der Nachhaltigkeitsstrategie aus, etwa beim Primärenergieverbrauch, beim Schutz der Artenvielfalt oder der Schadstoffbelastung der Luft. All diese Ziele wurden eindeutig verfehlt.

Als Reaktion auf diesen Flop hat die Bundesregierung ihre Nachhaltigkeitsstrategie 2016 „überarbeitet“, im Klartext: verwässert. Nach dem Motto: Wenn wir es nicht schaffen, den Flächenverbrauch bis 2020 nicht auf 30 Hektar pro Tag zu senken, dann machen wir das eben bis 2030. Das Umweltbundesamt hat die Latte gleich noch höher gelegt und in seinem „integrierten Umweltprogramm“ angekündigt, den Flächenfraß zu diesem Zeitpunkt auf 20 Hektar pro Tag senken zu wollen. Das wäre auch notwendig, denn nach der Ressourcenstrategie der Europäischen Union und dem Klimaschutzplan der Bundesregierung müsste bis Mitte des Jahrhunderts der Übergang zu einer Flächenkreislaufwirtschaft erreicht sein. Es dürften unterm Strich also überhaupt keine neuen Flächen mehr beansprucht werden.

Wie das klappen soll, bleibt freilich im Dunkeln. Tatsächlich liegt der Flächenverbrauch noch bei 54 Hektar pro Tag, der Rückgang stockt und derzeit ist sogar wieder eine leicht steigende Tendenz zu beobachten. Besonders viele Böden gehen in Sachsen, Thüringen und Bayern verloren, obwohl sich die Landesregierung in letzterem Bundesland besonders ehrgeizige Ziele gesetzt hat. Der hohe Flächenverbrauch bedeutet zudem ein Mehr an Treibhausgasen, denn wo Häuser, Gewerbe- und Industrieanlagen entstehen, kommen massenweise Rohstoffe und Energie zum Einsatz, zudem müssen auch Straßen her, die wiederum zusätzlichen Verkehr nach sich ziehen.

Vom Wunschdenken zu wirklichen Handeln

Wie aber wäre der Flächenfraß zu stoppen? Zum einen müssen sich Nachhaltigkeitsziele an klare Adressaten richten und verbindlich sein. Das heißt, der Flächenverbrauch muss dort begrenzt werden, wo er stattfindet – auf der Ebene der Kommunen. Für die Städte und Gemeinden bedeutet das: Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Statt immer wieder neue Wohn- und Gewerbegebiete auf der grünen Wiese auszuweisen und unter hohem Kosten- und Ressourcenaufwand zu erschließen während Ortskerne veröden, müssten Kommunen verpflichtet werden, zunächst Baulücken und Leerstände im Innenbereich zu nutzen. Sie müssten die Möglichkeit bekommen, aufgegebene und nicht mehr bewohnte Bauten, so genannte „Schrottimmobilen“, die Ortsbilder verschandeln und mitunter eine Gefahr für Leib und Leben darstellen, zu enteignen und abreißen zu lassen.

So könnten bereits „verbrauchte“ Flächen wiederverwendet werden. Auf ihnen ließen sich attraktiver und gleichzeitig bezahlbarer Wohnraum und Kleingewerbeflächen schaffen. Familien könnten in die Dorf- und Stadtzentren gelockt werden, wo sie von kurzen Wegen dank verdichteter Bebauung profitieren. Immer neue, gesichtslose Einfamilienhaussiedlungen mit blauglänzenden Dachziegeln, Thujahecken, Toskanasäulen und Gärten im Handtuchformat würden obsolet.

Flächen zum Handelsgut machen

Zum anderen sollten neue ökonomische Anreize gesetzt werden, um Flächen zu sparen. So erfahren manche wirtschaftlich erfolgreichen Städte Zuwanderung, sie wachsen und müssen notgedrungen Wohnungen und Verkehrsinfrastruktur bauen. Sie können die Vorgaben des Flächensparens kaum erfüllen. Aber andere Kommunen verlieren Einwohner, sie benötigen keinerlei neue Flächen oder sie können bereits ausgewiesene, aber nicht in Anspruch genommene Wohn- und Gewerbegebiete aus der Planung nehmen. Sie könnten sogar ungenutzte Gebäude und Industriebrachen zurückbauen und dem Naturhaushalt zurückgeben. Bisher hat eine solche Kommune allerdings keinerlei finanziellen Vorteile, wenn sie flächensparsam handelt oder überbautes Land wieder entsiegelt.

Deshalb wäre es klug, einen Ausgleich zwischen den Kommunen, die Flächen benötigen, und solchen, die welche übrighaben, zu ermöglichen. Dazu müssten der Flächenverbrauch für alle Städte und Gemeinden entsprechend ihrer Größe und den Nachhaltigkeitszielen gedeckelt und handelbare Verbrauchszertifikate eingeführt werden. Das entspricht dem erprobten Prinzip des „cap and trade“ beim CO2-Emissionshandel, bei dem alle Treibhausgasemittenten eine begrenzte Zahl an Verschmutzungsrechten bekommen und weitere Rechte nur erhalten können, wenn sie diese einem anderen Emittenten abkaufen, der so umweltschonend arbeitet, dass er seine eigenen Rechte gar nicht vollständig in Anspruch nehmen muss.

Boomende Kommunen müssten sich also über einen Flächenhandel Verbrauchsrechte sichern und sie den schrumpfenden oder nachhaltig orientierten Kommunen abkaufen. Weil der Flächenverbrauch über die Jahre kontinuierlich gegen Null gesenkt werden soll, sich also die Gesamtmenge an handelbaren Flächenzertifikaten reduziert, wird dieses Geschäft für die sparsamen Kommunen immer attraktiver. Frankfurt oder München müssten eine Menge Geld hinlegen, um über Bebauungspläne neues Baurecht zu schaffen, die Uckermark oder die Südwestpfalz würden von dem ökologisch-ökonomischen Lastenausgleich profitieren. Weil die Zertifikate immer teurer werden, würde überwiegend dort gebaut, wo es auch einen ökonomischen Nutzen erbringt. Umgekehrt erhielten gerade Gemeinden in Schrumpfregionen, die notorisch unter Geldmangel leiden, eine neue Einnahmequelle. Das eingenommene Geld könnten sie an anderer Stelle einsetzen und ihre Attraktivität erhöhen, etwa einen Kindergarten renovieren oder das Schwimmbad subventionieren. Flächensparen wird so steuerbar – und zum Geschäftsmodell.

09.07.2022

Achtmilliarden-Grenze erreicht

Die Menschheit wächst seit Jahrzehnten in unverändertem Umfang


Beim Weltbevölkerungstag am 11. Juli ist es wie mit Weihnachten – das Datum steht, die Nachricht ist immer die Gleiche, aber früher war mehr Lametta: Auch in diesem Jahr gibt es wieder die immer gleiche Meldung, dass sich die Zahl der Menschen um rund 80 Millionen vermehrt hat. Gleichzeitig ist die Wachstumsrate der Menschheit weiter zurückgegangen.

Der jährliche Zuwachs liegt mittlerweile „nur noch“ bei gut einem Prozent. Aber weil wir als Weltgemeinschaft in diesem Jahr die Achtmilliarden-Grenze überschreiten werden, kommen immer noch so viele Weltbürgerinnen und Weltbürger hinzu wie Anfang der 1970er Jahre: Damals lag die Wachstumsrate noch bei rund zwei Prozent, es waren aber lediglich vier Milliarden Menschen zu zählen. Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen schätzt in ihrer mittleren (aber nicht zwingend wahrscheinlichsten) Variante, dass es noch eine Weile in diesem Tempo weitergehen dürfte, bevor dieses sich langsam reduziert. Bis 2050 wären wir demnach 9,7 und bis Ende des laufenden Jahrhunderts 10,9 Milliarden.

Die Corona-Pandemie hat bis dato nach offiziellen Zahlen fast 6,5 Millionen Opfer gefordert (mit Dunkelziffer dürfte die Zahl zwei- bis dreimal so hoch sein). Ob dies das Wachstum verlangsamt hat, ist wegen mangelnder Daten bislang nicht zu sagen. Womöglich hat es sich sogar wieder beschleunigt. Denn unter den Verstorbenen waren viele, die ohnehin über kurz oder lang aus dem Leben geschieden wären. Zusätzlich haben sich angesichts der Seuche die Lebensbedingungen in den am wenigsten entwickelten Ländern zum Teil massiv verschlechtert: Kinder konnten nicht mehr zur Schule gehen, Mittel zur Familienplanung waren vielerorts nicht mehr wie zuvor verfügbar, Mädchen wurden aus reiner Not in jungen Jahren von ihren Familien verheiratet. Dadurch stieg die Zahl der Schwangerschaften vor allem in Afrika, Süd- und Westasien.

Haben wir ein Bevölkerungsproblem?

Die auch nicht gerade neue Frage ist, ob dieses Wachstum ein Problem ist. Immerhin spielt es sich auf einem begrenzten Planeten ab, der weder über unerschöpfliche Agrarflächen noch über ausreichende Aufnahmekapazitäten für all jene Abfallstoffe verfügt, die das Milliardenvolk hinterlässt.

Klar sei das ein Problem, befand der britische Pastor und Nationalökonom Thomas R. Malthus schon 1798 (damals gab es noch nicht einmal eine Milliarde Menschen): Denn die Zahl der Erdenbewohner wachse schneller als die Möglichkeit, ausreichend Nahrung zu produzieren. Malthus Sorge wurde rasch widerlegt und 1927 konnte die globale Landwirtschaft bereits zwei Milliarden Menschen ernähren, 1960 sogar drei Milliarden. Doch in den 1960er Jahren schürten dann einige Wissenschaftler, allen voran der amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich, die Furcht vor einer „Bevölkerungsbombe“ und sagten den Hungertod von Hunderten Millionen voraus.

Doch seither ist die Menschheit munter weitergewachsen. Die globale Nahrungsmittelproduktion hat sich seit 1970 etwa verdreifacht. Die Kindersterblichkeit ist massiv zurückgegangen und die Lebenserwartung ist überall gestiegen, in den armen Ländern sogar stärker als in den reichen. Angesichts dieser Daten kommt man nicht umhin zu sagen, dass es den Menschen heute besser geht als vor 20, 30 oder 50 Jahren – trotz oder gar wegen des Bevölkerungswachstums.

Deshalb gab und gibt es immer auch Personen und Institutionen, die in dem Menschen-Mehr einen großen Gewinn gesehen haben oder immer noch sehen. So gehen viele Ökonomen davon aus, dass die Gleichung „mehr Menschen = mehr Konsumenten, mehr Produzenten und mehr Innovationskräfte“ zu immer mehr Wirtschaftswachstum und Wohlstand führen muss. Ein extremer Vertreter dieser pronatalistischen Theorie war der 1998 verstorbene US-Ökonomieprofessor Julian L. Simon. Er vertrat die Auffassung, die Menschheit könne noch über Jahrtausende im gleichen Stil weiterwachsen und müsste dabei weder Hunger noch einen Mangel an irgendetwas erfahren. Für Simon gab es keinen überzeugenden Grund, „warum der Trend zu einem besseren Leben nicht endlos weitergehen sollte“. Denn für jede erschöpfte Ressource gebe es einen besseren und billigeren Ersatz. Schließlich habe der Mensch einst Plastik erfunden, als das Elfenbein für die Billardkugeln knapp wurde. Der Erfindergeist könne jedes Versorgungsproblem lösen, solange das Bevölkerungswachstum dafür sorge, dass die Summe der menschlichen Gehirne immer größer werde.

Kein Wunder, dass Simon, der an der Universität von Maryland lehrte, große Hoffnungen in die katholische Kirche als Gegnerin der Geburtenkontrolle setzte. Sie sei die einzige Institution, „die sich der Idee verschrieben hat, dass mehr Leben etwas Gutes ist“. Der Vollständigkeit halber sollte man erwähnen, dass die männlichen Verantwortlichen in Rom nicht wirklich wissen, wovon sie reden, denn sie haben wenig praktische Erfahrung damit, wie es ist, in einem armen Land als Frau einen Haufen Kinder zur Welt und die Familie über die Runden zu bringen.

Wo viele Menschen vor allem Probleme mit sich bringen

Angesichts der sich verschärfenden multidimensionalen globalen Krisen hat sich die Begeisterung über den Zugewinn an neuen Seelen vielerorts gelegt. Bevölkerungswachstum bedeutet gerade für stark die betroffenen Länder keinerlei ökonomische Vorteile. Vielmehr ist dort die Arbeitslosigkeit gerade unter den kopfstarken jüngeren Erwerbsfähigen extrem hoch. Die am stärksten wachsenden Länder zeichnen sich gerade nicht durch geniale Erfindungen aus, mit denen sich Versorgungsprobleme lösen ließen. Perspektivlosigkeit und Armut bedeuten dort nicht nur anhaltend hohe Geburtenziffern, sondern erhöhen die Gefahr von sozialen Konflikten, politischen Unruhen bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen.

Viele Indikatoren weisen darauf hin, dass es zumindest einen Zusammenhang zwischen hohem Bevölkerungswachstum und sozialen, wirtschaftlichen sowie politischen Krisen gibt, auch wenn ersteres nie die einzige Erklärung für eine krisenhafte Entwicklung liefern kann. So weisen sämtliche Länder, die im Index der fragilen Staaten des US-amerikanischen Fund for Peace in die Kategorien „großer“ und „sehr großer Alarm“ fallen, Geburtenziffern von 3,6 bis 6,9 Kindern je Frau auf: Syrien, Afghanistan, Somalia, Jemen, Sudan, Südsudan, Tschad, Zentralafrikanische Republik und Demokratische Republik Kongo. Im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen finden sich ganz am Ende fast ausschließlich Länder, in denen die Zahl der Menschen jährlich um bis zu 3,7 Prozent wächst, also fast viermal so stark wie die Weltbevölkerung insgesamt. Ähnliche Zahlen gelten für den Welthungerindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Überall wo die Lebenserwartung niedrig, die Kindersterblichkeit hoch liegen und Frauen wenig Rechte haben, weisen Geburtenziffern und Bevölkerungswachstum tendenziell hohe bis sehr hohe Werte auf.

Mehr Menschen bedeuten für diese Länder mit Sicherheit mehr Probleme. Nur verbesserte Gesundheitssysteme, Bildung, vor allem für Mädchen und Frauen, sowie ausreichend Arbeitsplätze, die den Menschen eine Perspektive bieten, können die Geburtenziffern senken und dem Kreislauf aus Armut und weiterem Bevölkerungswachstum ein Ende bereiten. So ähnlich hatte es Thomas R. Malthus schon vor 244 Jahren in seinem „Essay on the Principle of Population“ geschrieben. Es gilt heute umso mehr. Soviel bis zum nächsten Weltbevölkerungstag am 11. Juli 2023.

Beim Weltbevölkerungstag am 11. Juli ist es wie mit Weihnachten – das Datum steht, die Nachricht ist immer die Gleiche, aber früher war mehr Lametta: Auch in diesem Jahr gibt es wieder die immer gleiche Meldung, dass sich die Zahl der Menschen um rund 80 Millionen vermehrt hat. Gleichzeitig ist die Wachstumsrate der Menschheit weiter zurückgegangen.

Der jährliche Zuwachs liegt mittlerweile „nur noch“ bei gut einem Prozent. Aber weil wir als Weltgemeinschaft in diesem Jahr die Achtmilliarden-Grenze überschreiten werden, kommen immer noch so viele Weltbürgerinnen und Weltbürger hinzu wie Anfang der 1970er Jahre: Damals lag die Wachstumsrate noch bei rund zwei Prozent, es waren aber lediglich vier Milliarden Menschen zu zählen. Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen schätzt in ihrer mittleren (aber nicht zwingend wahrscheinlichsten) Variante, dass es noch eine Weile in diesem Tempo weitergehen dürfte, bevor dieses sich langsam reduziert. Bis 2050 wären wir demnach 9,7 und bis Ende des laufenden Jahrhunderts 10,9 Milliarden.

Die Corona-Pandemie hat bis dato nach offiziellen Zahlen fast 6,5 Millionen Opfer gefordert (mit Dunkelziffer dürfte die Zahl zwei- bis dreimal so hoch sein). Ob dies das Wachstum verlangsamt hat, ist wegen mangelnder Daten bislang nicht zu sagen. Womöglich hat es sich sogar wieder beschleunigt. Denn unter den Verstorbenen waren viele, die ohnehin über kurz oder lang aus dem Leben geschieden wären. Zusätzlich haben sich angesichts der Seuche die Lebensbedingungen in den am wenigsten entwickelten Ländern zum Teil massiv verschlechtert: Kinder konnten nicht mehr zur Schule gehen, Mittel zur Familienplanung waren vielerorts nicht mehr wie zuvor verfügbar, Mädchen wurden aus reiner Not in jungen Jahren von ihren Familien verheiratet. Dadurch stieg die Zahl der Schwangerschaften vor allem in Afrika, Süd- und Westasien.

Haben wir ein Bevölkerungsproblem?

Die auch nicht gerade neue Frage ist, ob dieses Wachstum ein Problem ist. Immerhin spielt es sich auf einem begrenzten Planeten ab, der weder über unerschöpfliche Agrarflächen noch über ausreichende Aufnahmekapazitäten für all jene Abfallstoffe verfügt, die das Milliardenvolk hinterlässt.

Klar sei das ein Problem, befand der britische Pastor und Nationalökonom Thomas R. Malthus schon 1798 (damals gab es noch nicht einmal eine Milliarde Menschen): Denn die Zahl der Erdenbewohner wachse schneller als die Möglichkeit, ausreichend Nahrung zu produzieren. Malthus Sorge wurde rasch widerlegt und 1927 konnte die globale Landwirtschaft bereits zwei Milliarden Menschen ernähren, 1960 sogar drei Milliarden. Doch in den 1960er Jahren schürten dann einige Wissenschaftler, allen voran der amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich, die Furcht vor einer „Bevölkerungsbombe“ und sagten den Hungertod von Hunderten Millionen voraus.

Doch seither ist die Menschheit munter weitergewachsen. Die globale Nahrungsmittelproduktion hat sich seit 1970 etwa verdreifacht. Die Kindersterblichkeit ist massiv zurückgegangen und die Lebenserwartung ist überall gestiegen, in den armen Ländern sogar stärker als in den reichen. Angesichts dieser Daten kommt man nicht umhin zu sagen, dass es den Menschen heute besser geht als vor 20, 30 oder 50 Jahren – trotz oder gar wegen des Bevölkerungswachstums.

Deshalb gab und gibt es immer auch Personen und Institutionen, die in dem Menschen-Mehr einen großen Gewinn gesehen haben oder immer noch sehen. So gehen viele Ökonomen davon aus, dass die Gleichung „mehr Menschen = mehr Konsumenten, mehr Produzenten und mehr Innovationskräfte“ zu immer mehr Wirtschaftswachstum und Wohlstand führen muss. Ein extremer Vertreter dieser pronatalistischen Theorie war der 1998 verstorbene US-Ökonomieprofessor Julian L. Simon. Er vertrat die Auffassung, die Menschheit könne noch über Jahrtausende im gleichen Stil weiterwachsen und müsste dabei weder Hunger noch einen Mangel an irgendetwas erfahren. Für Simon gab es keinen überzeugenden Grund, „warum der Trend zu einem besseren Leben nicht endlos weitergehen sollte“. Denn für jede erschöpfte Ressource gebe es einen besseren und billigeren Ersatz. Schließlich habe der Mensch einst Plastik erfunden, als das Elfenbein für die Billardkugeln knapp wurde. Der Erfindergeist könne jedes Versorgungsproblem lösen, solange das Bevölkerungswachstum dafür sorge, dass die Summe der menschlichen Gehirne immer größer werde.

Kein Wunder, dass Simon, der an der Universität von Maryland lehrte, große Hoffnungen in die katholische Kirche als Gegnerin der Geburtenkontrolle setzte. Sie sei die einzige Institution, „die sich der Idee verschrieben hat, dass mehr Leben etwas Gutes ist“. Der Vollständigkeit halber sollte man erwähnen, dass die männlichen Verantwortlichen in Rom nicht wirklich wissen, wovon sie reden, denn sie haben wenig praktische Erfahrung damit, wie es ist, in einem armen Land als Frau einen Haufen Kinder zur Welt und die Familie über die Runden zu bringen.

Wo viele Menschen vor allem Probleme mit sich bringen

Angesichts der sich verschärfenden multidimensionalen globalen Krisen hat sich die Begeisterung über den Zugewinn an neuen Seelen vielerorts gelegt. Bevölkerungswachstum bedeutet gerade für stark die betroffenen Länder keinerlei ökonomische Vorteile. Vielmehr ist dort die Arbeitslosigkeit gerade unter den kopfstarken jüngeren Erwerbsfähigen extrem hoch. Die am stärksten wachsenden Länder zeichnen sich gerade nicht durch geniale Erfindungen aus, mit denen sich Versorgungsprobleme lösen ließen. Perspektivlosigkeit und Armut bedeuten dort nicht nur anhaltend hohe Geburtenziffern, sondern erhöhen die Gefahr von sozialen Konflikten, politischen Unruhen bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen.

Viele Indikatoren weisen darauf hin, dass es zumindest einen Zusammenhang zwischen hohem Bevölkerungswachstum und sozialen, wirtschaftlichen sowie politischen Krisen gibt, auch wenn ersteres nie die einzige Erklärung für eine krisenhafte Entwicklung liefern kann. So weisen sämtliche Länder, die im Index der fragilen Staaten des US-amerikanischen Fund for Peace in die Kategorien „großer“ und „sehr großer Alarm“ fallen, Geburtenziffern von 3,6 bis 6,9 Kindern je Frau auf: Syrien, Afghanistan, Somalia, Jemen, Sudan, Südsudan, Tschad, Zentralafrikanische Republik und Demokratische Republik Kongo. Im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen finden sich ganz am Ende fast ausschließlich Länder, in denen die Zahl der Menschen jährlich um bis zu 3,7 Prozent wächst, also fast viermal so stark wie die Weltbevölkerung insgesamt. Ähnliche Zahlen gelten für den Welthungerindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. Überall wo die Lebenserwartung niedrig, die Kindersterblichkeit hoch liegen und Frauen wenig Rechte haben, weisen Geburtenziffern und Bevölkerungswachstum tendenziell hohe bis sehr hohe Werte auf.

Mehr Menschen bedeuten für diese Länder mit Sicherheit mehr Probleme. Nur verbesserte Gesundheitssysteme, Bildung, vor allem für Mädchen und Frauen, sowie ausreichend Arbeitsplätze, die den Menschen eine Perspektive bieten, können die Geburtenziffern senken und dem Kreislauf aus Armut und weiterem Bevölkerungswachstum ein Ende bereiten. So ähnlich hatte es Thomas R. Malthus schon vor 244 Jahren in seinem „Essay on the Principle of Population“ geschrieben. Es gilt heute umso mehr. Soviel bis zum nächsten Weltbevölkerungstag am 11. Juli 2023.

04.06.2022

Und wer macht eigentlich morgen die Arbeit?

Der Fachkräftemangel kommt alles andere als überraschend


Jede moderne Gesellschaft braucht Menschen, die arbeiten, sich um die Volkswirtschaft verdient machen und Steuern zahlen. Deshalb sollten Politik und Unternehmen stets ein Auge auf die demografische Entwicklung der Gesamtbevölkerung und ihrer Belegschaften haben. Nur so erhalten sie ein einigermaßen zuverlässiges Bild darüber, wie viele Personen über die nächsten 10, 20 oder 30 Jahre als potenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Demografische Vorhersagen sind so ziemlich das Zuverlässigste, was die amtliche Statistik zu bieten hat.

Insofern ist es bemerkenswert, wie wenig sich Arbeitgeber und Verwaltung in der Vergangenheit für die Bevölkerungszusammensetzung interessiert haben. Immerhin liegen die Kinderzahlen in Deutschland schon für ein halbes Jahrhundert so niedrig, dass jede Nachwuchsgeneration die ihrer Eltern nur zu etwa zwei Drittel ersetzen kann. Die Bevölkerung zwischen Rügen und dem Bodensee wäre seit 1972 in jedem Jahr geschrumpft, hätte es keine Zuwanderung gegeben. Seit fünf Jahrzehnten ist im Prinzip bekannt, dass zeitversetzt zum Rückgang der Geburtenziffern stark besetzte Kohorten von Personen im Erwerbsalter von deutlich dünner besetzten ersetzt werden und gleichzeitig die Zahl der Ruheständler wächst. Und zwar nicht irgendwann, sondern exakt vorausberechenbar.

Vorausschauende Planung gehört jedoch nicht zu den herausragenden Eigenschaften der Menschen, was sich generell beim Umgang mit Entwicklungen zeigt, die eine lange Vorlaufzeit haben, vom Klimawandel bis zum Artenschwund. Eine adäquate Antwort auf den demografischen Wandel wurde zudem dadurch gestört, dass er sich lange Jahre überaus positiv auf das Wirtschaftsgeschehen auswirkte. Denn weniger Nachwuchs bedeutet einerseits weniger Kosten für Familien und den Staat. Andererseits sind die stark besetzten Jahrgänge der Babyboomer, die sich wie eine Beule in der Bevölkerungspyramide nach oben schieben, relativ gut gebildet, haben meist einträgliche Jobs und sind verlässliche Zahler von Steuern und Sozialbeiträgen. Sie sind, neben den Zuwanderern, der Hauptgrund dafür, dass Deutschland in den vergangenen Jahren Rekordbeschäftigungszahlen wie auch Rekordsteuereinnahmen verbuchen konnte.

Bye, bye Babyboomer

Mittlerweile aber haben die ersten Jahrgänge der Babyboomer das Ruhestandsalter erreicht. Im Jahr 2030, zum Höhepunkt der Babyboomer-Verrentung, werden sich doppelt so viele Menschen aus dem Erwerbsleben verabschieden, wie gleichzeitig von unten in den Arbeitsmarkt hineinwachsen. Bis 2035 werden die bevölkerungsreichsten Kohorten, die Deutschland je hatte, nahezu komplett aus dem Arbeitsleben ausscheiden, mit Ausnahme jener, die aus eigenem Antrieb länger arbeiten wollen oder müssen, weil sie das Geld brauchen. Es schrumpft also die demografische Mitte der Bevölkerung, und damit jene Gruppe, die im Wesentlichen für den Wohlstand der Gesellschaft sorgt. Der Personalmangel in praktisch allen Wirtschaftsbereichen kommt mit Sicherheit, aber sicher nicht überraschend.

Nahezu flächendeckend fehlen Fachkräfte schon heute in der Bauwirtschaft, bei Berufskraftfahrern, im Erziehungsbereich sowie in allen Gesundheits- und Pflegeberufen. Im Handwerk bleiben fast 40 Prozent der angebotenen Stellen für Auszubildende unbesetzt. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beziffert den aktuellen Mangel im Mint-Bereich, also in den industrierelevanten Kernfächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik auf 320.000 Fachkräfte – Tendenz steigend. In Sachen Digitalisierung, wo Deutschland einen gewissen Nachholbedarf hat, dürfte es kaum so rasch vorangehen wie nötig, ebenso beim energetischen Umbau des Wohnungsbestandes und der Umstellung auf eine kohlenstofffreie Energieversorgung. Besonders betroffen ist die öffentliche Verwaltung, die bei den Gehältern für die heißbegehrten IT-Experten kaum mit den privaten Unternehmen mithalten kann. Und wo die Verwaltung nicht endlich digitalisiert wird, hinken Planungsprozesse, Genehmigungsverfahren für Bauvorhaben und Unternehmensansiedlung noch stärker hinterher als ohnehin schon. Beschleunigung sieht anders aus.

Wie immer können wirtschaftsstarke Branchen und Regionen über gute Gehälter besser auf den Mangel reagieren. Das aber geht zwangsläufig auf Kosten anderer. Besonders negativ betroffen sind Gebiete im Osten Deutschlands, vor allem dort, wo sich in der Vergangenheit junge Menschen auf der Suche nach Ausbildung und Beschäftigung auf den Weg nach Westen oder in die ostdeutschen Großstädte gemacht haben und es entsprechend heute an jungen Familien und Nachwuchs fehlt. Mancherorts in den neuen Bundesländern wird bis 2035 ein Drittel des Arbeitskräfteangebots verloren gehen. Dort sind viele kleine und mittlere Unternehmen gefährdet, schlicht und einfach, weil sie keine Auszubildenden und Arbeitskräfte mehr finden. Aber auch erfolgreiche Betriebe in Südwestfalen, dem Oldenburger Münsterland oder auf der Schwäbischen Alb, darunter viele verborgene Weltmarktführer, die sogenannten Hidden Champions, haben immer mehr mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen.

In absoluten Zahlen werden interessanterweise die wirtschaftsstarken Regionen im Süden Deutschlands am meisten Arbeitskräfte verlieren, denn dort sind überproportional viele Babyboomer beschäftigt. Viele von ihnen wurden in der Vergangenheit mit guten Jobangeboten aus anderen Teilen Deutschlands angelockt. Diese Gebiete haben mit einer massiven Verrentungswelle zu rechnen. Bayerische Landkreise wie Freising oder Erding, die zu den wohlhabendsten der Republik gehören, müssen bis 2035 mit einem Anstieg der Ruheständler um etwa 50 Prozent rechnen.

Potenziale zum Teil ausgeschöpft

Wie sich dem Mangel an Arbeitskräften begegnen lässt, wird seit langem diskutiert: Mehr Frauen ins Berufsleben, gezielte Anwerbung von Zuwanderern und länger arbeiten. In diesen Bereichen ist seither Einiges geschehen, so dass die Möglichkeiten dadurch mehr Personen für den Arbeitsmarkt zu gewinnen teilweise schon ausgeschöpft sind. Bleibt ein letzter Bereich, bei dem es in Deutschland kaum vorangeht: die Bildung. Seit Jahren erreichen zwischen sechs und sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Abschlussjahrgangs nicht einmal den Hauptschulabschluss. Männer häufiger als Frauen. Mindestens noch einmal so viele Jugendliche gelten als „nicht ausbildungsfähig oder -willig“, weil sie trotz Schulabschlusszertifikat kaum lesen, schreiben und rechnen können oder psychisch nicht in der Lage sind einen Acht-Stundentag durchzuhalten. Diese jungen Menschen werden mit geringen Chancen in ihre Berufskarriere entlassen, sie gehen der Volkswirtschaft verloren, vielen droht die Arbeitslosigkeit, auch wenn es überall an Arbeitskräften mangelt.

Im Bereich Bildung wären somit noch ungeahnte Schätze für den Arbeitsmarkt zu heben. Doch dafür wären zusätzliche und motivierte und motivierende Lehrkräfte nötig. An denen aber fehlt es auch. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, weil Schulpolitik Ländersache ist und die Verantwortlichen ungern ihre eigenen Defizite auf den Tisch legen. Eltern berichten allerdings häufig von Unterrichtsausfall oder dass in bestimmten Fächern gar nicht unterrichtet wird. Immerhin schätzt die Kultusministerkonferenz, dass landesweit bis 2030 rund 14.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen werden, besonders hoch ist der Bedarf an Berufsschulen. Aber auch diese Zahl könnte schöngerechnet sein, denn Studien von Bildungswissenschaftlern kommen auf einen Fehlbestand von bis zu 80.000 Kräften. Berücksichtigt man die geplanten politischen Reformvorhaben wie Ganztagsschule, Inklusion und die Unterstützung von Kindern in heiklen sozialen Lagen sowie die steigende Zahl von Flüchtlingskindern, die erst noch die deutsche Sprache lernen müssen, dann ist die Lehrerlücke noch einmal deutlich größer.

Ein Grund für den Lehrkräftemangel findet sich wiederum in der Demografie: Einerseits kamen in Deutschland zwischen 2010 und 2020 trotz insgesamt niedriger Geburtenziffern etwas mehr Kinder zur Welt, weil es vergleichsweise viele Menschen im Familiengründungsalter gab. Es waren die Enkel der geburtenstarken Babyboomer, die für diesen Echoeffekt in den Geburtskliniken gesorgt hatten. Zudem sorgten gewisse Erfolge der Familienpolitik dafür, dass sich junge Menschen wieder etwas häufiger für Nachwuchs entschieden. Andererseits hat auch die Altersstruktur des Lehrpersonals ihre typische Babyboomer-Beule. Und das bedeutet auch hier eine massive Verrentungswelle bis 2035.

Das Beruhigende an der Demografie ist, dass auch diese Entwicklungen mit großem Vorlauf zu erwarten waren. Demografische Prognosen sind im Grund nichts anderes als buchhalterische Fortschreibungen, nach dem Prinzip: Wer heute 30 Jahre alt ist, zählt in 20 Jahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit 50 Jahre

24.03.2022

Die Jungen müssen uns retten

Aber werden sie es tun?

 

Landläufiger Meinung nach interessieren und engagieren sich die jungen Menschen tendenziell mehr für Umweltfragen als die Generation ihrer Eltern und Großeltern. So dürfte das Durchschnittsalter jener, die sich aus Protest gegen eine irrlichternde Klimapolitik auf Autobahnen festkleben, bei gut 20 Jahren liegen. Greta Thunberg, die Begründerin der Bewegung „Fridays for Future“, ist 19 Jahre alt.

Der Aktivismus der Jugend ist verständlich, schließlich wächst die „Generation Greta“ in einer multidimensionalen Umweltkrise auf. Sie wird deren Folgen weitaus länger und heftiger ertragen müssen als die Generation der Babyboomer, die ihr den Schlamassel eingebrockt hat, die derzeit ins Rentenalter hineinwächst und auch noch erwartet, dass die ihr verbleibenden Ruhestandsjahre von den Jüngeren finanziert werden. Der gute alte Spruch, dass es „unsere Kinder einmal besser haben sollen als wir“, wirkt angesichts dieser intergenerationellen Schieflage reichlich deplatziert.

Doch stimmt es überhaupt, dass die junge Generation umweltbewusster denkt und handelt als die ihrer Eltern und Großeltern? Das ist schwer zu sagen. Zwar ist der kumulierte Umweltschaden der Älteren mit Sicherheit größer, denn sie hatten schlicht und einfach mehr Zeit, über ihre Verhältnisse zu leben, also mehr Ressourcen zu verbrauchen und mehr Schadstoffe zu hinterlassen, als die Umwelt nachliefern respektive vertragen kann. Ältere sitzen auch häufiger im SUV auf dem Weg zur Arbeit, während junge Menschen eher mit dem Fahrrad oder im öffentlichen Nahverkehr zur Schule fahren. Aber niemand weiß, wie sich der ökologische Rucksack der heute Jungen über ihre Lebenszeit füllen wird.

Studien, die auf Befragungen zum Umweltbewusstein und -verhalten der Generationen beruhen, geben keine klare Antwort auf die Frage, ob sich nun die Jungen oder die Alten im Sinne der Nachhaltigkeit besser verhalten. So geht aus einer Untersuchung des Umweltbundesamtes aus dem Jahr 2019 hervor, dass Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahren zwar recht gut Bescheid wissen um die Folgen des fossilen Energieverbrauchs, über das Bienensterben oder den Einfluss des Fleischkonsums auf den Klimawandel. Wenn es aber darum geht, wie jeder Einzelne den Energieverbrauch im Haushalt reduzieren kann, also um das „handlungsrelevante Umweltwissen“, dann sieht es mit dem Umweltbewusstsein der Jüngeren schon schlechter aus.

Eine Studie des Heidelberger Sinus-Instituts zeigt ein ähnliches Bild: Fast die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland würde zugunsten des Klimas auf das neuste Handy verzichten. Aber nur rund ein Fünftel achtet beim Einkaufen von Lebensmitteln tatsächlich auf Regionalität und Saisonalität oder sagt aus Klimaschutzgründen Nein zu Fast Food, Lieferessen und Coffee-to-go. Ohnehin ist die Generation Greta eine heterogene Gruppe, einerseits mit jungen Menschen, die sich bewusst vegan ernähren und auf Flugreisen verzichten und andererseits mit Gleichaltrigen, die auf Burger stehen, Billigklamotten shoppen, bis der Arzt kommt, stundenlang am Handy hängen, streamen, posten, whatsappen, instagrammen und gamen, was das Zeug hält und damit die klimaschädlichen Server in den Rechenzentren heiß laufen lassen. Vor allem Jugendliche aus sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen mit geringem Bildungsabschluss haben mit Umweltschutz wenig am Hut. Dafür verfügen besser gebildete junge Menschen über mehr Geld. Und Geld bedeutet Konsum, also Rohstoff- und Energieverbrauch.

Die Vorstellung von alten Umweltschweinen und jungen Klimaschützern ist falsch

Eine Untersuchung der Versicherungsgesellschaft Aviva in Großbritannien offenbart, dass sich Jugendliche zwar eher als Ältere besorgt und betroffen zeigen, wenn es um den Zustand der Umwelt geht – sie fühlen sich schlecht, wenn sie auf den Zustand der Welt blicken. Im Alltag allerdings verhalten sich die Mitglieder der Generation 55+ in nahezu allen umweltrelevanten Bereichen verantwortungsvoller als die 16- bis 24-Jährigen: Sie trennen den Müll besser, vermeiden häufiger Plastik, drehen eher die Heizung im Winter runter, kaufen weniger Klamotten und verzichten eher auf Flüge. Nur bei der veganen Ernährung liegen die Jungen vorne. Dass die Älteren besser dastehen, mag daran liegen, dass sie sich eher bewusst sind, welchen ökologischen Schaden sie zeit ihres Lebens bereits angerichtet haben. Und daran, dass sie häufig Eltern und Großeltern sind und sich verantwortlich dafür fühlen, wie sie ihren Kindern und Enkeln den Planeten hinterlassen, ein Denken, das junge Menschen noch gar nicht entwickeln können. Über alle Altersgruppen hinweg glauben die Befragten mehrheitlich (zu 78 Prozent), dass sie eine persönliche Verantwortung haben, die Klimakrise zu bekämpfen. Wenn es aber darum geht, wirklich etwas gegen Klimawandel und Naturverbrauch zu tun, ist nur eine Minderheit bereit sich einzuschränken. Da geht es den Älteren wie den Jüngeren.

Vorsicht vor Fatalismus und Radikalismus

Trotzdem wird es zwangsläufig vor allem die Aufgabe der Jüngeren sein, die Umweltherausforderungen der Zukunft zu lösen. Sie müssen die dringend nötigen neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle für ein Wohlergehen der Menschen ohne Umweltschäden mit Leben füllen. Das seit Jahren wachsende Bewusstsein für mehr Klimaschutz bei Älteren wie Jüngeren ist ein erstes positives Zeichen, es reicht aber bei Weitem nicht. Aus Bewusstsein müssen Taten und politische Konzepte werden, die gegen vielerlei Widerstände durchzusetzen sind. Das ist ein mühsames und langwieriges Geschäft, während die Zeit drängt: Der Klimawandel und die anderen Umweltprobleme schaukeln sich immer weiter auf, verstärken sich zum Teil gegenseitig und kommen sogenannten Kipppunkten näher. Das sind abrupte Systemveränderungen, die auch durch massive Umweltschutzmaßnehmen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. 

In dieser Situation neigen junge Menschen mitunter zu Radikalismus oder Fatalismus. Sie versuchen mit gewaltsamen Protesten das zu durchzusetzen, was die Politik nicht hinbekommen hat, erreichen dabei aber in der Regel nur das Gegenteil. Oder sie resignieren, weil es sich angeblich nicht mehr lohnt etwas gegen Klimawandel und Co. zu unternehmen. Tatsächlich zeigt eine Studie des Londoner King’s College und des New Scientist, dass die Jüngeren eher zum Öko-Fatalismus neigen als die Älteren: Ein Drittel der 18- bis 25-Jährigen glaubt, dass sich nicht mehr lohnt, den Klimawandel mit Verhaltensänderungen zu bekämpfen, weil die Sache eh gelaufen ist. Bei der Generation der Babyboomer hat nur ein Fünftel die Hoffnung total aufgegeben.

Vielleicht sollten sich alle Generationen zusammentun, Radikalismus und Fatalismus über Bord werfen und gegen Pragmatismus eintauschen. Das Wissen um die Umweltprobleme und deren Lösung liegt auf dem Tisch. Jetzt ist die Zeit zu handeln – und zwar schnell.

09.03.2022

Atommacht auf Schrumpfkurs

Der demografische Wandel bedroht Russland mehr als die Nato

146 Millionen sind eine ganze Menge Menschen. Ungefähr so viele leben in Frankreich und Deutschland zusammen. Oder in Russland. Schaut man sich allerdings die Wirtschaftskraft der drei Staaten an, dann kommen die beiden EU-Länder zusammen auf über das Vierfache des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von Russland. Die Russen erwirtschaften also nur ein Viertel an Werten in Form von Gütern und Dienstleistungen. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass ein großer Teil der Wertschöpfung durch das Herumpumpen von Erdöl und Erdgas oder das Abbaggern von Kohle und Erzen zustande kommt, dann bringen die 146 Millionen Bewohner Russlands im Sinne einer modernen Volkswirtschaft ziemlich wenig auf die Waage. Selbst der ehemalige Marionettenpräsident Dmitri Medwedew hat die Rohstoffökonomie einmal als „primitiv“ bezeichnet.

Das Land, das sich gerne als Supermacht sieht, mag über das größte Atomwaffenarsenal der Welt und die neuntgrößte Bevölkerung verfügen, ist aber global gesehen kein wirklich großer Player. Jedenfalls nicht mehr so wie früher. Im Jahr 2000 stellte Russland (als Unionsrepublik der UdSSR) noch die sechstgrößte Bevölkerung der Welt, 1950 sogar die viertgrößte. Und die Sowjetunion, die nach ihrem Ende im Jahr 1991 in 15 unabhängige Nachfolgestaaten zerfiel, stand mit 293 Millionen Einwohnern sogar auf Platz drei der bevölkerungsreichsten Länder, nach China und Indien, aber vor allem vor dem Erzfeind USA mit 250 Millionen. Über die ganze Phase des Kalten Krieges konnte die Sowjetunion die Vereinigten Staaten demografisch in Schatten stellen.

Heute haben die USA fast 200 Millionen Einwohner mehr als Russland, wobei die Amerikanerinnen und Amerikaner pro Kopf volkswirtschaftlich dreimal produktiver sind. Diese Zahlen muss der ehemalige US-Präsident Barak Obama vor Augen gehabt haben, als er die Russen einmal etwas abfällig als „Regionalmacht“ bezeichnete.

Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin muss das die größte anzunehmende Kränkung gewesen sein. Aber auch die demografische Degradierung seines Reiches dürfte zu der kaum mehr zu übersehenden Schwermut des Präsidenten beitragen, der, und darin liegt die große Gefahr, seine „unterschwellige Unsicherheit mit übertriebener Gegenwehr“ kompensiere, wie der US-Psychologe Jerrold Post, der langjährige Leiter des „Zentrums für die Analyse von Persönlichkeit und politischem Verhalten“ des Geheimdienstes CIA einmal geschrieben hat.

Wo Menschenleben und Humanvermögen wenig gelten

Natürlich misst sich der Einfluss oder die Macht eines Staates und seiner Wirtschaft nicht an der Zahl der Menschen, die dort leben. Ansonsten könnte die Schweiz mit ihren 8,6 Millionen Eidgenossen kein BIP ausweisen, das fast doppelt so hoch ist wie das von Nigeria, wo sich 215 Millionen Menschen tummeln.

Der Schlüssel zum Erfolg in Informations- und Wissensgesellschaften ist das Humankapital, das sich im Wesentlichen aus dem Bildungs- und dem Gesundheitszustand der Bevölkerung zusammensetzt. Gesunde und qualifizierte Bürger tragen am meisten zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand bei. Dafür muss eine Regierung ein gutes Bildungssystem bereithalten, das möglichst vielen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt, sie muss in medizinische Versorgung und Gesundheitsprävention investieren und den Menschen die Freiheiten geben sich wirtschaftlich und gesellschaftlich zu entfalten.

Von diesen Bedingungen ist Russland meilenweit entfernt. Es behandelt das Humankapital, die Potenziale seiner Bürgerinnen und Bürger geradezu liederlich: Ein großer Teil der intellektuellen Elite ist entweder mundtot gemacht oder sitzt im Gefängnis. Wer kann, setzt sich ins Ausland ab. Die Oligarchen, die nicht unbedingt zu dieser Elite zählen, verschieben ihre Milliarden dorthin, weshalb es in Russland an Investitionen fehlt, um die Wirtschaft zu modernisieren. Die gut ausgebildete, urbane Mittelschicht erlebt seit Jahren einen Braindrain. Vor allem Wissenschaftler, Finanz- und Technologieexperten wandern ab, ein Trend, der sich durch den Ukrainekrieg und die verhängten Sanktionen beschleunigen würde, wären da nicht die geschlossenen Botschaften und die gestrichenen Flugverbindungen ins westliche Ausland.

Als Gründe für ihre Abwanderung nennen die Migranten vor allem die autoritäre Politik des Kremls, Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Korruption. Seit Putin an der Macht ist, haben über zwei Millionen Fachkräfte das Land verlassen, heißt es in der Studie „The Putin Exodus“ der Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council. Ziel sind die westlichen Demokratien, in denen es sich freier arbeiten lässt. Während die Sowjetunion, die vergleichsweise viel Geld in die Forschung gesteckt hat, bekannt war für ihre guten Naturwissenschaftler und öfter mal Nobelpreise abräumen konnte, gehen die Auszeichnungen für russische Wissenschaftler mittlerweile eher an Personen, die im niederländischen, britischen oder US-amerikanischen Exil forschen.

Gerade junge Menschen, das zeigen Umfragen, würden Russland in Scharen verlassen, wenn sie könnten. Die Verdienstmöglichkeiten sind schlecht, vor allem wenn die richtigen Beziehungen fehlen. Die Miete in großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg frisst die Hälfte des Einkommens. Ein weiterer Grund, Russland hinter sich zu lassen, ist der Wehrdienst. Männer zwischen 18 und 28 Jahren werden für ein Jahr eingezogen, wenn sie sich nicht mit Schmiergeld freikaufen oder einen Studienplatz vorweisen können, wofür ebenfalls Geld notwendig ist. Das ist der Grund dafür, dass die meisten Rekruten aus armen Familien stammen, schlecht ernährt und wenig gebildet sind und oftmals Alkohol- oder Drogenprobleme haben. Nach einem halben Jahr Ausbildung können die Soldaten in Kriegsgebiete entsandt werden. Kommen sie verletzt zurück, ist das Militär nicht mehr zuständig, die Invaliden können sehen, wie sie über die Runden kommen.

Generell gilt ein Menschenleben wenig in der Truppe. In den Kasernen gilt eine brutale Hackordnung, Dienstältere schikanieren und verprügeln regelmäßig die Untergebenen. „Dedowtschina“ heißt die Quälerei im militärischen Fachjargon. Geschätzte 3.000 Rekruten gehen jedes Jahr an den Misshandlungen zugrunde. Und im Kriegseinsatz, wie derzeit in der Ukraine, werden die jungen Soldaten weitgehend unvorbereitet auf das, was sie erwartet, als Kanonenfutter verheizt. Wie viele Russen in den Kämpfen ihr Leben lassen lässt sich nicht überprüfen, es dürften aber auf alle Fälle deutlich mehr sein als die 498 Gefallenen, die von der russischen Regierung bis zur ersten Märzwoche 2022 bestätigt sind.

Russische Lebenserwartung von Männern auf dem Niveau eines Entwicklungslandes

Ob sich mit diesem Humanverschleiß dauerhaft ein russischer Staat machen lässt, ist eine andere Frage. Denn das Land liegt ohnehin schon seit Jahren auf demografischem Schrumpfkurs. Die Ursachen dafür sind vielfältig und liegen zum Teil lange zurück. Hunger, Krieg, Vertreibung, Zwangsarbeit und Völkermord haben die Bevölkerung immer wieder dezimiert, zu Zarenzeiten, unter Stalin und durch den Zweiten Weltkrieg. Die kopfstarke Nachkriegsgeneration ist bereits im Rentenalter und die Kohorte der jungen Erwachsenen, die eigentlich für Innovation und Aufbruch stehen sollte, ist massiv ausgedünnt, weil sie in der extrem kinderarmen Zeit der Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren ist. Die Zahl der Menschen im Erwerbsalter sinkt kontinuierlich. Bis 2030 dürften es gegenüber heute rund sieben Millionen weniger sein.

Vor allem in der Post-Sowjetzeit durchlief das neu entstandene Russland eine schwere sozioökonomische Krise. Ähnlich wie in der ehemaligen DDR waren ganze Industriestrukturen zusammengebrochen, ländliche Gebiete, die einst zwangsbesiedelt waren, liefen leer. Armut, exzessiver Alkoholkonsum, Unfälle, Gewaltverbrechen, Selbstmorde, Tuberkulose und Aids forderten ihren Zoll. Vor allem Männer, die Probleme am liebsten mit Wodka lösen, waren die Verlierer des Wandels. Ihre Lebenserwartung sank 1994 auf gut 57,6 Jahre, so früh starben sie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Frauen hatten immerhin 14 Jahre mehr vom Leben.

Mittlerweile hat sich die Lage wieder etwas verbessert und russische Männer können damit rechnen immerhin 66 Jahre alt zu werden. Damit verbringen sie im Schnitt gerade mal vier Jahre im Rentenalter, das derzeit für Männer mit 62 Jahren beginnt. Russland zahlt zwar nur mickrige Altersbezüge, mit denen die Alten kaum über die Runden kommen, aber das Rentensystem steht vergleichsweise gut da, weil die Menschen so früh versterben. Wie schlecht es um die Gesundheit der Russen und die medizinische Versorgung in der vermeintlichen Supermacht steht, zeigt der Vergleich mit dem armen Entwicklungsland Bangladesch: Dort können Männer im Schnitt mit 71 Jahren Lebenserwartung rechnen.

Wenig Lust auf Kinder

Die Umbrüche haben auch den Wunsch junger Menschen gebremst, eine Familie zu gründen. Innerhalb eines Jahrzehnts sackte die Geburtenziffer von über 2,0 auf 1,2 Kinder je Frau ab. 2,1 Kinder wären nötig, um langfristig eine stabile Bevölkerung zu halten. Im Jahr 2000, während der Rubelkrise, kamen in Russland nur noch 1,2 Millionen Kinder zur Welt, während 2,2 Millionen Menschen starben. Die Zeichen standen eindeutig auf Einwohnerschwund und damit verbunden auf einen möglichen Kontrollverlust über das flächenmäßig größte Land der Erde. 2006 sah Wladimir Putin in der demografischen Krise das drängendste Problem Russlands. In der Folge erhöhte er die finanzielle Unterstützung von Familien. Für ein zweites Kind gab es fortan ein sogenanntes Mutterschaftskapital von umgerechnet 8.000 Euro. Gleichzeitig begann Russlands Wirtschaft wieder zu wachsen und die Menschen konnten wieder mit mehr Zuversicht nach vorne blicken.

Anschließend stieg die Geburtenziffer auf fast 1,8 Kinder je Frau, fiel bald danach aber wieder ab, auf heute 1,5. Auch Putin musste lernen, dass sich mit Geld allein keine Kinder kaufen lassen, denn wie überall auf der Welt haben Prämien fürs Kinderkriegen meist nur einen Einmaleffekt: Die Menschen ziehen ohnehin geplante Geburten einfach vor und nehmen das Geld mit, weil sie nicht wissen, wie lange das Regierungsversprechen anhält. Unterm Strich bekommen sie aber nicht unbedingt mehr Kinder. Auch wenn Putin am liebsten Mutterkreuze an Russinnen mit großer Kinderschar verleihen würde, wird er den Abwärtstrend nicht aufhalten können. Denn derzeit kommen jene jungen Menschen ins Familiengründungsalter, von denen es wegen des Geburteneinbruchs Anfang des Jahrhunderts nur wenige gibt. Dass diese Menschen jetzt noch in einem Krieg verschlissen werden, gleicht einem demografischen Harakiri.

Auf dem absteigenden Ast

Russlands Bevölkerung wäre längst um mehr als 15 Millionen geschrumpft, hätte die russische Föderation nicht Millionen Menschen aus anderen Ex-Sowjetstaaten angelockt, in denen die wirtschaftliche Lage noch schlechter ist als in Russland. Vor allem auf Russischstämmige hat es Putin abgesehen. Es kommen aber auch Millionen von nichtrussischen Arbeitsmigranten aus dem Südkaukasus, Zentralasien und der Ukraine, die eher gelitten als willkommen sind. Ohne sie würde die russische Wirtschaft aber nicht funktionieren. Heute hat Russland mit 146 Millionen Einwohnern wieder drei Millionen mehr als während des Tiefststandes von 2008 – aber auch nur, weil der Kreml zwei Millionen Krimbewohner auf dem eigenen Konto verbucht, obwohl die Halbinsel völkerrechtlich zur Ukraine gehört. Womöglich plant Putin mit der Eroberung der Ukraine oder anderer Gebiete den Status Russlands als demografischer Scheinriese aufrecht zu erhalten. Die Vereinten Nationen allerdings gehen in ihren Projektionen davon aus, dass sich die Bevölkerung zwischen Kaliningrad und Wladiwostok bis 2050 um zehn Millionen reduziert. Das Riesenland hätte dann weniger Einwohner als Äthiopien, die Demokratische Republik Kongo oder die Philippinen.

Alles in allem ist es angesichts der demografischen Lage Russlands so ziemlich das Dümmste, einen menschenzehrenden Krieg gegen einen Nachbarstaat anzuzetteln. Wie viele Menschen dies- und jenseits der Grenze ihn nicht überleben werden, lässt sich heute nicht beziffern. Aber er wird die wirtschaftliche Lage Russlands mit Sicherheit nicht verbessern. Es steht eher zu befürchten, dass die Russen abermals durch eine schwere Krise gehen müssen, in deren Folge Lebenserwartung und die Geburtenziffern wieder sinken. Die verhängten Sanktionen gegen Russland werden diesen Niedergang beschleunigen, meint eine Studie des Münchner Ifo-Instituts, denn sie lähmen die Wirtschaftskraft und schädigen das Gesundheitssystem. Hans-Werner Sinn, der ehemalige Leiter des Ifo-Instituts, hält als Folge von Putins Kriegstreiberei sogar einen Staatsbankrott für möglich.

Aber bevor jetzt Schadenfreude aufkommt: Das Leid tragen die geschundenen Menschen in der Ukraine und auch diejenigen auf russischer Seite, die in den Krieg ziehen mussten, ohne vorher gefragt zu werden.

17.02.2022

Not bringt Bäume um

Tropenwald- und Artenschutz ist nur mit integrierter Entwicklung möglich

Im vergangenen Jahrzehnt gingen nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) 53 Millionen Hektar der tropischen Wälder verloren, eine Fläche so groß wie Neuseeland. Brandgerodet, abgesägt oder durch „ganz normale“ Waldbrände zerstört. Solche Feuer gab es zwar immer schon, aber sie werden durch den menschengemachten Klimawandel immer häufiger.

Immerhin sind die jährlichen Waldverluste nur noch ein Drittel so hoch wie in den 1980er Jahren. Damals, zu den Spitzenzeiten der Waldvernichtung, mussten die Bäume vor allem im brasilianischen Amazonasgebiet neuen Weide- und Agrarflächen weichen. Hätte sich der Kahlschlag in dem Tempo fortgesetzt, wäre vom größten und vielfältigsten Regenwald der Welt heute kaum noch etwas übrig.

Aber nur auf den ersten Blick ist das eine gute Nachricht. Denn das Artensterben, das mit dem gebremsten aber anhaltenden Waldverlust einhergeht, hat sich keinesfalls verlangsamt, sondern beschleunigt. Noch nie in der menschlichen Geschichte haben mehr Tier- und Pflanzenarten das Zeitliche gesegnet als in der jüngsten Vergangenheit. Die genaue Zahl der ausgelöschten Arten ist zwar unbekannt, denn viele von ihnen verschwinden von der evolutionären Bühne, bevor irgendein Taxonom sie hätte katalogisieren können. Es gilt aber als sicher, dass der heutige Artentod 100- bis 1000-mal schneller abläuft als unter natürlichen Bedingungen, also wenn der Mensch nicht seine Finger im Spiel hätte. Die Umwandlung von Wald in Ackerland gilt als größte Bedrohung für die Biodiversität, aber auch Umweltgifte, Überfischung und Bejagung, Klimawandel und invasive Arten tragen massiv zu dem Artensterben bei.

Besonders hoch waren beziehungsweise sind die Waldverluste in armen Weltregionen, in denen die Bevölkerung in der jüngeren Vergangenheit stark gewachsen ist oder immer noch wächst. Die Frage ist, ob es zwischen beiden Phänomenen einen Zusammenhang gibt, dass also ein Mehr an Menschen weniger an Wald bedeutet.

Arme Bauern sind die Feinde des Waldes

Eine Untersuchung des Thünen-Instituts für Waldwirtschaft ist dieser Frage jetzt in zwölf Waldgebieten in Sambia, Ecuador und den Philippinen nachgegangen und konnte zumindest für diese Regionen eindeutig zeigen, dass Bevölkerungswachstum massiv zu Lasten des Waldes geht. Denn der Wald bringt den Menschen vordergründig wenig – man kann ihn nicht essen. Sie zerstören ihn deshalb zugunsten anderer Nutzungsformen, vor allem um darauf Landwirtschaft zu betreiben und um Holzkohle herzustellen. Ähnlich haben es die Europäer im Mittelalter gemacht.

Diese Entwicklung lässt sich mit der sogenannten Forest-Transition-Theorie beschreiben. Sie besagt, dass die Waldbewohner in armen Ländern, in denen meistens auch ein starkes Bevölkerungswachstum herrscht, ihre Einkommenslage in der Regel nur auf Kosten des Waldes verbessern können. Werden sie dadurch ein wenig wohlhabender, geht es den Bäumen noch mehr an den Kragen. Erst wenn die betroffenen Regionen ein noch höheres Wohlstandsniveau erreicht haben, kann der Wald wieder in die Komfortzone wachsen. Dann nämlich wandern viele Landbewohner in die urbanen Zentren ab, weil es dort bessere und mehr Jobs gibt. Und mit steigendem Wohlstand erhöht sich das Umweltbewusstsein. Wirtschaftliche Entwicklung lässt zudem die Geburtenziffern sinken und der Bevölkerungsdruck sinkt. Irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem die Waldflächen wieder zunehmen, auch wenn sie dann nicht mehr ihre ursprüngliche Artenvielfalt zurückgewinnen können.

Nach diesem Muster breitet sich der Wald in reichen und auch in einigen Schwellenländern wieder aus. Und das, obwohl dort immer mehr Flächen unter Straßen, Häusern, Gewerbe- und Industrieanlagen versiegelt werden. Deutschland bietet ein gutes Beispiel für die u-förmige Entwicklung der Bewaldung über die Jahrhunderte in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand: Zu Zeiten der Römer war die Fläche der heutigen Bundesrepublik weitgehend von Bäumen bestanden. Nach den mittelalterlichen Wüstungen galt das nicht einmal mehr für 20 Prozent des Landes. Heute sind wieder 32 Prozent der Republik bewaldet, obwohl dort wesentlich mehr Menschen leben, Tendenz leicht steigend. Fast in allen Ländern Europas dehnt sich der Wald aus, aber auch in Nordamerika, selbst in China und Indien. Das Gegenteil ist in Südamerika, Zentralafrika, Myanmar und Indonesien der Fall. Dort stehen die am stärksten bedrohten Regenwaldgebiete der Erde.

Lehren für den Naturschutz

Um den Wald dort zu bewahren, wo er besonders gefährdet ist, also in den wenig entwickelten Ländern, nützt es wenig, ihn einfach unter Schutz zu stellen. Denn dieser Status steht dort meist nur auf dem Papier und er lässt sich kaum kontrollieren. Die Not treibt die Bauern, die meist nur Subsistenzlandwirtschaft mit sehr geringen Flächenerträgen betreiben, immer weiter in die Waldgebiete. Kleinbauern mögen aus Sicht mancher westlicher Nichtregierungsorganisationen den nostalgischen Charme von Selbstversorgung und Nachhaltigkeit haben, in Wirklichkeit sind sie große Waldzerstörer. In diesem Punkt unterscheiden sie sich kaum von großen Agrarkonzernen, die auf tropischen Rodungen Soja oder Palmöl anbauen oder sie zu Weideland für die Rinderzucht umfunktionieren.

Nötig wären Entwicklungsprogramme, welche die Subsistenzbauern aus der Falle von Armut und hohen Kinderzahlen befreien können. Die Menschen brauchen Zugang zu Bildung sowie Jobs und Einkommensmöglichkeiten, die nicht davon abhängen, dass immer neue Waldflächen für die Landwirtschaft urbar gemacht werden. Dafür muss der Ackerbau produktiver werden, damit er auf weniger Fläche mehr abwirft. Das sollte mittels einer „nachhaltigen Intensivierung“ geschehen, damit dabei nicht neue Umweltschäden entstehen. Und es sind nachgelagerte Wertschöpfungsketten aufzubauen, in denen landwirtschaftliche Primärprodukte zu markttauglichen Lebensmitteln veredelt werden. Mit derartiger Weiterverarbeitung lässt sich bis zu zehnmal mehr Geld verdienen als mit dem reinen Ackerbau.

Integriert umsetzen

Generell lässt sich Artenschutz am besten betreiben, wenn verschiedene Entwicklungsziele wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung, Trinkwasserversorgung oder Klimaschutz gebündelt verfolgt werden, also mit integrierten Programmen. Weil mittlerweile fast überall auf der Welt Menschen leben, ergibt es wenig Sinn Ökosysteme zu schützen oder zu renaturieren, nur um der Natur einen Gefallen zu tun. Vielmehr geht es darum, den Menschen eine Existenz zu sichern und gleichzeitig den Schaden an der Umwelt zu minimieren, damit der Klimawandel gebremst wird, sich der Wasserhaushalt verbessert und die Tier- und Pflanzenvielfalt eine Chance hat.

Das geht aus einem Policy Brief des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalysen (IIASA) in Laxenburg bei Wien hervor. Die Wissenschaftler haben in verschiedenen Szenarien untersucht, wie sich Biodiversität am effizientesten erhalten lässt. Eine Extremvariante geht dabei davon aus, dass bis Mitte des Jahrhunderts 40 Prozent der globalen Landfläche komplett unter Schutz gestellt sowie fünf Millionen Quadratkilometer degradiertes Land regeneriert würden, letzteres entspräche der Fläche von Indien und Iran zusammengerechnet. Auf den verbliebenen Agrarflächen müsste dann aber eine hochproduktive Landwirtschaft ohne große Rücksicht auf die Umwelt betrieben werden, so wie es vielerorts in der EU, in Nordamerika oder Brasilien üblich ist. Unter diesen Bedingungen könnte das Artensterben zwar nicht gestoppt, aber immerhin gebremst werden. Allerdings zu hohen Kosten für die Menschen. Denn eine so große Fläche unter Schutz zu stellen würde die landwirtschaftlichen Möglichkeiten massiv begrenzen und die Welt in eine Ernährungskrise stürzen. Die knapp zehn Milliarden Menschen, die es bis 2050 geben dürfte, ließen sich so kaum ernähren, vor allem im armen Teil der Welt, wo die Preissteigerungen für Agrargüter einen verheerenden Effekt hätten.

Wesentlich mehr Erfolg verspricht ein Szenario, bei dem 60 Prozent der globalen Landfläche nachhaltig bewirtschaftet, acht bis elf Prozent der Fläche renaturiert und der Rest unter Schutz gestellt werden. Zusätzlich wären flankierende Maßnahmen notwendig: Die Handelsbedingungen müssten verbessert werden. Es müsste verhindert werden, dass ein erheblicher Teil der Lebensmittel auf dem Weg zu den Verbrauchern vergammelt. Und die Menschen müssten ihren Fleischkonsum reduzieren.

Diese Variante einer integrierten Entwicklung könnte eine Ernährungssicherung ohne steigende Lebensmittelpreise garantieren und die Artenvielfalt besser schützen als das extreme Konzept. Der Wasserbedarf wäre geringer, weniger Stickstoffdünger käme zum Einsatz, das Grundwasser würde weniger belastet und die Menschen würden sich gesünder ernähren. Auch für den Klimaschutz wäre dies die bessere Variante: Die Treibhausgasemissionen aus der Land- und Forstwirtschaft würden um 30 Prozent sinken.

In jedem Fall aber bleibt es eine enorme Herausforderung, eine wachsende Menschheit auf einem begrenzten Planeten zu vorsorgen, ohne dass sie dabei ihre Umwelt und damit ihre eigenen Lebensgrundlagen ruiniert.

13.01.2022

Wie viele werden kommen?

Die starke Flüchtlingszuwanderung von 2015/16 scheint Vergangenheit – das ist vermutlich ein Irrtum

Im Jahr 2016 gab die Mehrheit der Deutschen in einer regelmäßigen Befragung der R+V-Versicherung zu Protokoll, dass ihre größten Sorgen der Terrorismus, Spannungen durch den Zuzug von Ausländern und eine Überforderung der Gesellschaft durch Geflüchtete seien. 2018 fürchteten sie sich vor allem vor den Folgen der Politik eines erratisch agierenden US-Präsidenten Donald Trump. Und 2021 stand die Sorge vor Steuererhöhungen und Leistungskürzungen wegen der Corona-Pandemie im Vordergrund. Zugewanderte und Geflüchtete hatten zumindest einen Teil ihres Bedrohungspotenzials verloren.

2021 kamen allerdings weit weniger neue Migranten nach Deutschland als noch während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16, weil viele Grenzen coronabedingt weitgehend geschlossen waren. Aber die Zuwanderung dürfte bald schon wieder zunehmen, denn die Zahl der Menschen, denen es deutlich schlechter geht als jenen in Deutschland und die gute Gründe haben, ihr Land Richtung Europa zu verlassen, ist über die Jahre deutlich gewachsen.

In Zahlen kaum zu fassen

Doch wie sich die künftige Migration konkret entwickeln wird und wie viele Menschen sich aus welchen Überlegungen auch immer auf den Weg bis nach Europa machen werden, lässt sich schwer vorhersagen. Zu vielfältig sind die Gründe, die Menschen dazu bewegen ihre Heimat aufzugeben. Diese wandern aus wirtschaftlicher Not, wegen politischer Verfolgung, weil sie sich anderswo höhere Einkommen versprechen oder um ihren Kindern bessere Bildungschancen zu ermöglichen. Hinzu kommt als neuer Schlüsselfaktor der Klimawandel, der bis 2050 über 200 Millionen Menschen ihre Existenzgrundlage rauben dürfte, wie Mo Hamza, ein Experte für Risikoabschätzung von der schwedischen Lund Universität meint. Zudem würden die Migrationsmotive werden immer komplexer.

Weg wollen die Menschen vor allem aus afrikanischen Ländern. Dort ist der Migrationswunsch weltweit am größten, wie das amerikanische Markt- und Meinungsforschungsinstitut Gallup in ausgedehnten Befragungen herausgefunden hat. Die jüngsten Daten stammen zwar aus dem Jahr 2018, aber schon damals antworteten gut 60 Prozent der Erwachsenen in den Ländern südlich der Sahara auf die Frage „Würden Sie dauerhaft in ein anderes Land ziehen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?“ mit „Ja“. Weil die Bevölkerung in diesem Teil der Welt stark wächst und der Klimawandel die Probleme in Landwirtschaft, Tierhaltung und Fischerei verschärfen dürfte, wird sich der Migrationsdruck in Zukunft mit Sicherheit weiter erhöhen. Am Ende macht sich allerdings nur ein Bruchteil der Personen mit Abwanderungsgedanken tatsächlich auf den Weg, denn zwischen dem Wunsch und einer wirklichen Migration sind zahllose Hürden aufgebaut: Viele haben gar nicht die Mittel oder die notwendigen Netzwerke eine solche Reise zu organisieren und zu finanzieren. Und wenn sie aufbrechen, dann ist das Ziel in der Regel ein afrikanisches Nachbarland und nicht das ferne Europa.

Von umweltbedingter und deshalb unfreiwilliger Migration bedroht sind vor allem Menschen in armen, ländlichen Regionen der wenig entwickelten Länder, die sich kaum an veränderte Klimabedingungen anpassen können. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinen Nationen UNHCR schreibt, dass schon heute 90 Prozent der weltweiten Flüchtlinge aus Gebieten stammen, die extrem anfällig für die Folgen des Klimawandels und die daraus resultierenden sozialen und politischen Konflikte sind. Diese Menschen gelten in der Regel als „intern Vertriebene“, sie landen meist in den städtischen Ballungszentren ihrer eigenen Länder.

Krisenzonen Mena und Horn von Afrika

Die für Europa wichtigsten Klimawandel- und Migrationshotspots der nahen Zukunft dürften Nordafrika und der Nahe Osten sein. Die überwiegend arabisch geprägte Mena-Region (Kürzel für: Middle East/North Africa) ist das trockenste und wasserärmste Gebiet der Welt und hat über die nächsten Jahrzehnte mit steigenden Temperaturen und einen Rückgang der Niederschläge zu rechnen. In einigen Ländern wird über die Hälfte des Wassers aus fossilen Quellen gefördert, die sich über Jahrtausende nicht natürlich regenerieren. Die Landwirtschaft in der Mena-Region verbraucht nach Analysen der Weltbank schon heute 85 Prozent des verfügbaren Wassers. Sie produziert dennoch viel zu wenig Nahrungsmittel, weshalb die Region über die Hälfte ihres Getreidebedarfs einführen muss. Die prognostizierten Auswirkungen des Klimawandels bedeuten eine stärkere Verdunstungsrate auf den Agrarflächen sowie Ernteverluste, während die Nachfrage nach Lebensmitteln wegen des Bevölkerungswachstums steigt. Die ohnehin schon gefährlich hohe Arbeitslosigkeit dürfte sich erhöhen, denn 35 Prozent aller Jobs hängen an der Landwirtschaft. Mena wird nach Weltbank-Prognosen die weltweit stärksten wirtschaftlichen Verluste durch den Klimawandel erleiden. Vielen Menschen wird keine andere Wahl bleiben, als abzuwandern.

Eine andere Krisenregion in Sachen Klimawandel und Migration ist das Horn von Afrika mit den Ländern Äthiopien, Eritrea, Dschibuti und Somalia. Dort müssen über 140 Millionen Menschen ernährt werden und weil es kaum künstliche Bewässerung gibt, sind die Bauern und Viehhirten auf verlässliche natürliche Regenfälle angewiesen. 2017 und 2018 aber hatte die Region mit einer ungewöhnlichen Hitzewelle und Dürreperiode zu kämpfen. 2019 sorgten dann übermäßige Regenfälle für Überflutungen und Erdrutsche, vernichteten Ernten, ließen die Ackerböden erodieren und bereiteten den Boden für eine verheerende Heuschreckenvermehrung. Zwölf Millionen Menschen waren vom Hunger bedroht und die ohnehin schon vorherrschenden ethnischen Konflikte verstärkten sich. Die Internationale Organisation für Migration IOM bilanzierte 2020 am Horn von Afrika rund 6,5 Millionen intern Vertriebene und 3,5 Millionen Flüchtlinge, die zum Teil auch aus angrenzenden Ländern wie Sudan und Kenia stammten, wo ähnliche klimatische Anomalien vorherrschten. Natürlich werden auch die beobachteten Wanderungen am Horn von Afrika von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, aber eine Studie von IOM und der amerikanischen Harvard Humanitarian Initiative konnte jüngst einen eindeutigen statistischen Zusammenhang zwischen den klimatischen Extremen und den Migrationsbewegungen nachweisen.

Wo Klimawandel und enormes Bevölkerungswachstum kollidieren

Das nächste potenzielle Herkunftsgebiet für Klimaflüchtlinge liegt direkt unterhalb des Horns von Afrika, in der ostafrikanischen Region rund um den Victoriasee mit den Ländern Kenia, Tansania, Uganda, Burundi und Ruanda. Obwohl das Gebiet über gute Böden verfügt und dort eigentlich ein relativ gemäßigtes Klima vorherrscht, ist es von einer Verschiebung der Niederschlagszonen und von Dürrewellen bedroht. Damit sind Millionen von Kleinbauern in ihrer Existenz gefährdet. Die Küsten haben steigende Meerespegel und heftigere Sturmfluten zu erwarten. Gleichzeitig dürfte sich die Bevölkerung der fünf Länder bis Mitte des Jahrhunderts annähernd verdoppeln. Entsprechend erwartet eine Studie der Weltbank ab 2030 größere Migrationsströme, wenn es bis dahin keine entscheidenden Klimaschutzerfolge und Entwicklungsbemühungen gibt. Bis 2050 sei mit 38,5 Millionen Klimavertriebenen zu rechnen, das wären über zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Am schlimmsten betroffen wären Uganda und Tansania – nicht zufällig jene Länder, in denen die Bevölkerung am stärksten wächst.

Die Menschen würden dann aus trockeneren Zonen in die höher gelegenen und feuchteren Lagen am Victoriasee umsiedeln. Dort herrscht aber schon heute eine hohe Bevölkerungsdichte, etwa im tansanischen Mwanza am Südufer des Sees. Die mittlerweile zweitgrößte Stadt des Landes bietet mittlerweile 1,2 Millionen ein Zuhause, im Jahr 2000 waren es gerade einmal etwas mehr als 300.000. Die Versorgungslage mit den nötigen Infrastrukturen ist desaströs, die Slumgebiete weiten sich immer mehr aus und Armut ist weit verbreitet. Der Victoriasee, dessen Fische eine wichtige Ernährungsgrundlage für die Anwohner bedeuten, steht vor dem ökologischen Kollaps.

Europa ist indirekt betroffen

Die künftigen Klimavertriebenen Afrikas werden es armutsbedingt kaum bis nach Europa schaffen. Doch wenn es durch die Binnenmigration zu einem zusätzlichen Druck auf die ohnehin stark wachsenden Städte des Kontinents kommt, ist in den dortigen Armutsvierteln mit Verteilungskonflikten, politischen Unruhen bis hin zu bewaffneten Konflikten und insgesamt mit wankenden Regierungen zu rechnen. Umweltschäden verstärken somit andere Migrationsursachen und veranlassen jene Stadtbewohner, die es sich erlauben können, eine Auswanderung zu organisieren.

Nach diesem Muster dürften sich etwa der Bürgerkrieg und die millionenfache Flucht aus Syrien entwickelt haben: Die Levante hatte von 2006 bis 2011 eine ungewöhnliche Dürreperiode erlebt, die zu deutlichen Ernteeinbußen und einer inflationären Steigerung der Nahrungsmittelpreise führte. 1,5 Millionen Landbewohner verloren allein in Syrien ihre Existenzgrundlage und taten das, was auch Klimavertriebene in Afrika tun werden: Sie zogen in die Städte. In den syrischen Städten hatten aber bereits 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Irak Zuflucht gesucht. Die Konfliktursachen in den Zentren überlagerten sich, 2011 kam es zu Demonstrationen gegen die Lebensmittelpreise und gegen die Regierung. Das Assad-Regime schlug mit aller Härte zurück, es formierte sich Widerstand und bis zum Bürgerkrieg, dem IS-Terror und der massenhaften Flucht war es nur noch ein kurzer Weg.

Pulverfass Sahel

Es braucht wenig Fantasie, um diese Entwicklung nicht auch auf die afrikanische Sahelregion zu projizieren, ein weiteres Gebiet mit hohem Migrationspotenzial, das nicht allzu weit von Europa entfernt liegt. Starkes Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Übernutzung der Böden und der Wasserreserven destabilisieren derzeit praktisch alle Länder der Region. Vielerorts kommt es zu tödlichen Konflikten zwischen sesshaften Bauern und nomadisierenden Landbewohnern, die kein Weideland mehr für ihr Vieh finden. Kriminelle Banden und Terrororganisationen breiten sich aus, denen die Regierungen weitgehend machtlos gegenüberstehen.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR vermeldet für die Sahelzone rund drei Millionen Menschen auf der Flucht vor Gewalt, beziehungsweise vor den zahlreichen Ursachen, die letztlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. UNHCR sieht keinerlei Hoffnung auf Frieden und Stabilität für die Region. Dies sei der Grund dafür, dass sich wieder mehr Menschen auf die extrem gefährliche Reise durch die Sahara und über das Meer bis nach Europa machen.

Was tun?

Es ist klar, dass sich Klima- und Migrationsprobleme, die sich über Jahrzehnte ohne wirksame Gegenmaßnahmen aufgetürmt haben, nicht handstreichartig lösen lassen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie sich noch über viele Jahre verschärfen werden, selbst wenn es endlich zu abgestimmten, internationalen Anstrengungen kommen sollte, beide Herausforderungen zu bekämpfen. Deshalb gehören vor allem folgende Maßnahmen auf die Agenda der Weltgemeinschaft:

  • Die reichen und deshalb besonders klimaschädigenden Industrieländer und die aufstrebenden Schwellenländer müssen ihre Treibhausgasemissionen dringend reduzieren und bis spätestens 2050 auf Netto-Null-Emissionen kommen. Nur mit sofortigen, radikalen und zunächst vermutlich unpopulären Maßnahmen lässt sich dieses Ziel erreichen.
  • Das müssen die reichen Länder auch tun, um dem armen Teil der Welt dringend notwendige Entwicklungsschritte zu erlauben, die ohne neuen Energie- und Rohstoffverbrauch nebst den unvermeidlichen Emissionen gar nicht möglich sind. Diese Schäden sind vorübergehend zu akzeptieren, denn ohne Entwicklung gibt es kein Ende des Bevölkerungswachstums. Hält es an, werden alle Versuche die armen Länder zu stabilisieren ins Leere laufen.
  • Weil sich der Klimawandel auf mittlere Sicht gar nicht stoppen lässt (aber umso mehr akut bekämpft werden muss), brauchen jene Länder, die am stärksten unter den Folgen leiden werden, Unterstützung dabei, möglichst umweltfreundliche Arbeitsplätze zu schaffen und sich an die Klimaveränderungen anzupassen. Wichtig sind vor allem neue Jobs im Industrie- und Dienstleistungssektor, die nicht durch den Klimawandel gefährdet sind.
  • In Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum und bereits deutlich spürbaren Umweltveränderungen ist Abwanderung unvermeidlich. Sie sollte deshalb so gesteuert werden, dass dabei für alle Beteiligten ein Nutzen entsteht. Weit entwickelte Länder brauchen aus demografischen Gründen vermehrt Zuwanderung und auch in den betroffenen Regionen können Migranten jenseits ihrer Heimatländer zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Migranten bringen in der Regel neue Ideen mit und haben per se ein entwicklungspolitisches Potenzial, denn sie wollen ihr eigenes Leben aus eigener Kraft verbessern. Migration muss deshalb Teil der Entwicklungsplanung werden.
  • Sekundärfolgen des Klimawandels wie Bodenerosion, Waldverluste oder Übernutzung von Wasserreserven sind mit angepassten Landwirtschaftsmethoden zu minimieren. Gute Ideen und funktionierende Pilotprojekte wie die Züchtung von angepasstem Saatgut, Präzisionsackerbau oder Minimalbewässerung sind möglichst rasch in die Breite zu tragen. Die entsprechenden Länder sollten sich dabei des Prinzips des „Leapfroggings“ bedienen. So lautet der Fachbegriff für den Sprung zu technischen und sozialen Errungenschaften, die Menschen das Leben leichter machen, wobei ineffiziente, umweltschädliche und kostspielige Zwischenstufen der Entwicklung möglichst ausgelassen werden.
  • Klimaforscher und Agrarexpertinnen müssen Frühwarnsysteme für kleinräumige Umweltveränderungen entwickeln, damit sich die betroffenen Bevölkerungen und Verwaltungen frühzeitig auf entsprechende Veränderungen einstellen und gegebenenfalls anpassen können.

14.12.2021

Demografische Schieflagen

Zu viel, zu wenig, zu alt, zu jung?

Gibt es so etwas wie eine ideale Bevölkerungsgröße, eine idealen Bevölkerungsaufbau? Sind viele junge Menschen ein wirtschaftlicher Segen? Welche Herausforderungen bringt eine schrumpfende Bevölkerung mit sich? Wann stößt Bevölkerungswachstum an seine Grenzen?

Diese Fragen stellen sich immer häufiger, denn heutzutage erleben wir die historisch größten demografischen Ungleichgewichte auf der Welt. Während die Bevölkerung in Westasien und Afrika stark wächst, stehen die weiter entwickelten Länder, insbesondere in Osteuropa und Ostasien, vor einer demografischen Zeitenwende: Nach ein paar Jahrhunderten des Wachstums kündigt sich hier vielerorts eine Stagnation oder gar ein Rückgang der Bevölkerung an. Über 90 Länder verzeichnen inzwischen Geburtenziffern, die mittelfristig auf ein Schrumpfen hinauslaufen. 18 Länder weltweit verlieren schon Einwohner – Tendenz zunehmend.

Sicher ist, dass sowohl ein starkes Wachstum wie auch ein Schrumpfen Probleme mit sich bringen: Von der ersten Variante sind arme Länder betroffen, in denen es schon heute nicht gelingt die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Insbesondere fehlt es an Jobs für die großen Zahlen an nachwachsenden jungen Arbeitsuchenden. Bei anhaltendem Wachstum wird es für die dortigen Regierungen immer schwieriger soziale Unruhen, politische Konflikte und das Vordringen radikaler Gruppen zu vermeiden. Es ist sicher kein Zufall, dass in den Ländern mit dem weltweit höchsten Bevölkerungszuwachs entweder Bürgerkrieg herrscht oder zumindest bewaffnete Auseinandersetzungen und Terror an der Tagesordnung sind: In Asien wachsen Afghanistan, die palästinensischen Autonomiegebiete, Jemen und Irak besonders stark, in Afrika Niger, Somalia, Tschad, Mali und die Demokratische Republik Kongo. All diese Länder erreichen auf dem Index der gescheiterten Staaten die Alarmstufe.

Die demografische Krise jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs

Ganz andere Herausforderungen bringt ein Bevölkerungsrückgang mit sich. Er entsteht, wenn mehr Menschen sterben als geboren werden und/oder wenn mehr Menschen ab- als zuwandern. Ersteres beruht in der Regel auf gesunkenen Kinderzahlen je Frau. Das führt zu einer Alterung der Gesellschaft und verursacht steigende soziale Kosten, weil weniger Nachwuchskräfte in den Arbeitsmarkt hineinwachsen, als ältere in den Ruhestand wechseln. Zweiteres bedeutet einen Verlust an Produktivkräften, weil meistens Menschen im jungen Erwerbsalter und mit überdurchschnittlicher Ausbildung abwandern.

In den meisten mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern sowie im Baltikum, also im ehemaligen Ostblock, wirken beide Kräfte auf die Bevölkerungsentwicklung ein. Die Kinderzahl je Frau, auch Fertilitätsrate genannt, die vor 1990 deutlich über jener in Westeuropa lag, ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs massiv abgesackt. In der Ukraine, der Republik Moldau oder Bosnien-Herzegowina bekommen Frauen im Schnitt nur noch 1,1 bis 1,2 Kinder. Nirgendwo in der Region erreicht die Fertilitätsrate auch nur annähernd dem Wert von 2,1, der für eine stabile Bevölkerung nötig wäre.

Gleichzeitig lässt die wirtschaftliche und politische Lage in diesen Ländern viele Menschen ins nahe Westeuropa abwandern. Die Folge ist eine rasche Alterung der verbliebenen Bevölkerung, ein Schwund, der über die kommenden Jahrzehnte anhalten wird, und eine Verödung vieler ländlichen Gebiete. Die genannten Länder dürften bis 2050 rund ein Fünftel bis ein Viertel ihrer heutigen Einwohner verlieren. Nicht viel besser sieht es in den meisten anderen Ländern der Region aus. Die Frage ist, wie die Regierungen dann die steigenden Renten- und Gesundheitskosten bei sinkenden Steuereinnahmen finanzieren wollen.

Ostasiatische Implosionen                                                                                          

Im Vergleich dazu ist Ostasien eher für seine wirtschaftlichen Erfolge bekannt. Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur und China haben in der Vergangenheit einen historisch einmaligen Aufstieg von wenig entwickelten Ländern zu führenden High-Tech-Nationen erlebt. Sie haben eine „demografische Dividende“ eingefahren, also einen maximalen Nutzen aus ihren letzten geburtenstarken Jahrgängen gezogen. Diese waren es, die gut ausgebildet und mit ausreichend Jobs versorgt das ostasiatische Wirtschaftswunder angekurbelt haben. Weil gleichzeitig die Geburtenziffern rapide sanken, dadurch weniger Kinder und Jugendliche versorgt werden mussten und zunächst nur eine geringe Zahl an alten Menschen auf Unterstützung angewiesen war, konnten die Regierungen hohe Einnahmen bei geringen Sozialkosten erzielen. Sie hatten die Möglichkeit Riesensummen in Bildung und Forschung zu investieren und die Wirtschaft weiter zu fördern.

Doch die geburtenstarken Jahrgänge, die einstigen Motoren des Aufschwungs, sind mittlerweile in die Jahre gekommen und wachsen langsam, aber sicher aus der Erwerbsbevölkerung heraus. Ihnen folgen wegen des wirtschaftswunderbedingten Geburteneinbruchs Kohorten, die deutlich dünner besetzt sind.

Wie schnell aus einer jungen, innovativen Gesellschaft mit hohem Wirtschaftswachstum eine sehr alte, ökonomisch stagnierende werden kann, zeigt zunächst einmal Japan. Bis Anfang der 1990er Jahre galt das Land als Maß aller Dinge in Sachen Fortschritt. Heute ist ein Viertel der Bevölkerung 65 Jahre und älter, das ist Weltrekord. Seit zwei Jahrzehnten wächst die Wirtschaft kaum noch, dafür umso mehr die Verschuldung des Landes. 2011 begann die Bevölkerung zu schrumpfen, zunächst in kleinen Schritten, die jetzt immer größer werden. Heute leben im Reich der aufgehenden Sonne 125 Millionen Menschen, das bedeutet immerhin noch Platz 11 unter den Bevölkerungsriesen der Welt. 2060 werden es nach Schätzungen des nationalen statistischen Büros noch 93 Millionen sein. Das würde nicht einmal mehr für die Top 20 unter den bevölkerungsreichsten Ländern reichen. Dann dürften fast 40 Prozent der Japanerinnen und Japaner der Generation 65+ angehören.

Japan ist aber nur der Vorreiter der demografischen Implosion in Ostasien. In Südkorea, wo der Geburtenrückgang später, aber umso heftiger einsetzte, bekommen die Frauen im Schnitt nur noch 0,9 Kinder, das ist Negativweltrekord. Um 2050 dürfte Südkorea Japan als ältestes Land der Welt abgelöst haben. In Taiwan liegt die Fertilitätsrate bei 1,0, in Singapur bei 1,1, in China bei 1,3, weshalb das Zentralkomitee seine rigorose Ein-Kind-Politik jüngst panisch in eine Drei-Kind-Politik umgewandelt hat, allerdinge ohne merklichen Erfolg. Diese Länder stecken allesamt in einer „Niedrig-Fertilitäts-Falle“, aus der es vermutlich kaum ein Entkommen gibt: Gestiegene Bildungswerte, insbesondere bei Frauen, und eine hohe Frauenerwerbsbeteiligung kollidieren mit anhaltend patriarchalen Denkmustern, die Frauen eher in einer traditionellen Rolle in Sachen Familie sehen. Das führt dazu, dass Frauen sich immer häufiger gar nicht erst auf eine Heirat einlassen. Und weil Kinder ohne Trauschein noch immer ein Tabu sind, kommt immer weniger Nachwuchs zur Welt.

Die Folgen des demografischen Wandels in Ostasien liegen auf der Hand: Die Bevölkerung im Erwerbsalter schrumpft, die Innovationskraft sinkt, weil es erfahrungsgemäß die 20- bis 40-Jährigen sind, die für bahnbrechende Erfindungen sorgen, die Kosten der Altersversorgung steigen und letztlich schrumpft die Gesamtbevölkerung. 2020 kamen in Japan auf 100 Erwerbspersonen (20 bis 64 Jahre) 52 Ruheständler (über 64 Jahre), 2050 werden es Prognosen zufolge 79 sein. In Südkorea steigt der Ruheständleranteil je 100 Personen im Erwerbsalter von 24 auf 79; in China von 19 auf 47.

Der sich abzeichnende Arbeitskräftemangel ließe sich zwar durch Zuwanderung abfedern, aber bisher sind in diesen Staaten die Vorbehalte groß, ausländische Fachkräfte anzuwerben (oder Geflüchtete aufzunehmen), geschweige denn, sie als ganz normale Mitbürger zu akzeptieren und zu integrieren.

Eine Rückkehr zu einem natürlichen Bevölkerungszuwachs, also ein Wachstum allein aufgrund eines Geburtenüberschusses, gilt als ausgeschlossen. Denn historisch ist kein Land bekannt, in dem die Fertilitätsrate nach dem Absinken wieder über den „bestandserhaltenden“ Wert von 2,1 Kindern je Frau gestiegen wäre. Ostasien muss sich also auf einen Rückgang der Bevölkerung einstellen, wie er in Japan längst begonnen hat. Bis Mitte des Jahrhunderts dürfte China rund 150 Millionen Einwohner verlieren, das sind so viele, wie heute insgesamt in Deutschland und Frankreich leben.

Aus ökologischer Sicht wäre das sogar sinnvoll, denn die Menschheit hat längst eine Größe erreicht, die eine Gefahr für ihr eigenes Überleben bedeutet. Genau wie die weit entwickelten Länder in Europa und Amerika tragen die asiatischen Industrieländer überproportional zum Ressourcenverbrauch und zu Schadstoffemissionen aller Art bei. Weniger Hochverbraucher und Hochverschmutzer wären ein Segen für die Umwelt. Aus rein wirtschaftlichen Gründen allerdings wäre ein leichtes Bevölkerungswachstum vorteilhaft, denn es bedeutet eine steigende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Wie immer ist es schwer, ökonomische und umweltpolitische Erfordernisse unter einen Hut zu bringen.

Was tun?

Eine „ideale“ Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung lässt sich somit kaum definieren. Natürlich wäre es für ein Land praktisch, wenn Bevölkerungszahl und Altersstruktur einigermaßen konstant blieben, denn dann lassen sich Infrastrukturen am effizientesten nutzen, was kosten- und rohstoffsparend ist. Steigende Kinderzahlen etwa bedeuten, dass viele Schulen gebaut werden müssen, bei weniger Nachwuchs werden diese obsolet. Bleibt alles, wie es ist, sind kaum Anpassungen nötig.

Aber das passiert so gut wie nie, denn es ist unvermeidlich, dass sich eine Bevölkerungszusammensetzung im Rahmen der sozioökonomischen Entwicklung verändert: Weltweit sind über die vergangenen Jahrzehnte die Geburtenziffern gesunken, was vor allem mit wachsendem Wohlstand und steigenden Bildungswerten zu tun hat. Aus den gleichen Gründen ist allerorts die Lebenserwartung gestiegen. Alternde und schrumpfende Gesellschaften sind demnach die logische Folge einer grundsätzlich erfreulichen Entwicklung.

Rechtzeitig anpassen: Deutschland in der Pionierrolle

Es kommt in Zukunft also darauf an sich möglichst gut an diese zwangsläufigen Veränderungen anzupassen. Länder, die den demografischen Wandel früh erleben, haben hier eine besondere Aufgabe: Sie können (und sollten) als Pioniere jene gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modelle entwickeln, mit dem Wandel klarzukommen. Diese Modelle werden über kurz oder lang überall gebraucht und wer rechtzeitig über sie verfügt, hat einen klaren Wettbewerbsvorteil.

Deutschland wäre prädestiniert für diese Vorreiterrolle, denn dort ist die Fertilitätsrate früher als anderswo, genau gesagt seit 1972, unter den bestandserhaltenden Wert von 2,1 Kindern je Frau gefallen. Die DDR und die alte BRD zusammengerechnet verzeichnen seit einem halben Jahrhundert in jedem einzelnen Jahr mehr Sterbefälle als Geburten, also eine negative natürliche Bevölkerungsentwicklung. Dass die Einwohnerzahl zwischen Rügen und dem Bodensee seither dennoch um 4,5 Millionen gestiegen ist, liegt einzig an der Zuwanderung.

Damit hat Deutschland zumindest in dieser Hinsicht besser vorgesorgt als Japan, als Land mit der weltweit ältesten Bevölkerung ein weiterer Pionier, das allerdings nicht als zuwanderungsfreundlich gilt, sondern eher als xenophob. Aber ansonsten wird Deutschland seiner demografischen Vorreiterrolle kaum gerecht. Die Tatsache, dass die kopfstärkste Zehnjahreskohorte in der Bevölkerungspyramide zwischen 50 und 60 Jahre alt ist und geradewegs auf den Ruhestand zusteuert, dass der 1964 geborene Spitzenjahrgang der Babyboomer 2031 in Rente geht und dass bald schon weniger Einzahler in die Sozialsysteme einer wachsenden Zahl von Empfängern gegenüberstehen, wie die Rentenkommission der Bundesregierung akribisch vorrechnet, wird in der Politik weitgehend ignoriert.

Zwar hat sich die Bundesregierung schon 2012 eine Demografie-Strategie mit dem Namen „Jedes Alter zählt“ verpasst, aber seither keine wirklichen Antworten auf den Wandel gegeben. Denn dazu wäre es notwendig gewesen, frühzeitig Renten- und Gesundheitssysteme an die rasant steigenden Kosten einer alternden Gesellschaft anzupassen. Auch die neue, ampelfarbige Bundesregierung schenkt dem demografischen Wandel in ihrem Regierungsprogramm wenig Aufmerksamkeit. Sie verweigert sich einer eigentlich notwendigen weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters, was angesichts einer steigenden Lebenserwartung zu einer zusätzlichen Belastung für die jüngeren Generationen führen muss. Immerhin beziehen die Deutschen mittlerweile im Schnitt 20 Jahre Rente, über 5 Jahre mehr als noch 1995. Stattdessen diskutiert die Politik eher eine Senkung des Rentenalters für bestimmte Gruppen und verspricht „sichere“ oder „gerechtere“, auf jeden Fall steigende Renten, was nur bedeuten kann, die wichtige Wählergruppe der Älteren zu schonen und die Jungen zu schröpfen. Auch der geplante noch tiefere Griff in die Steuerkasse, um die Altersbezüge finanzieren zu können, belastet in erster Line jene, die im Berufsleben stehen.

Eine weitere Anpassungsstrategie wäre, massiv in Bildung zu investieren, damit die kleiner werdenden Nachwuchsjahrgänge helfen können die Volkswirtschaft fitter zu machen. Gute Bildung übersetzt sich automatisch in höhere Produktivität und höhere Einkommen, wovon der Staat über höhere Steuereinnahmen profitiert. Die wichtigste Ressource eines rohstoffarmen Landes wie Deutschland ist der Bildungsstand der jungen Menschen. Nur sie können helfen, die Folgen des demografischen Wandels abzufedern, aber dafür braucht es mehr Frühförderung für alle Kinder, eine bessere Einbeziehung der Eltern in die Bildungskarriere des Nachwuchses, bessere Schulen, ein fordernderes und fördernderes Lehrpersonal, besser ausgestattete Hochschulen und so weiter. Bildungspolitik in Deutschland ist eine Dauerbaustelle.

Immerhin hat die vergangene große Koalition mit dem Fachkräftezuwanderungsgesetz einen Schritt getan, um reguläre Einwanderungswege zu erleichtern. Die neue Regel vereinfacht und erweitert die zuvor schon existierenden Möglichkeiten der Erwerbszuwanderung. Es ermöglicht Menschen aus Drittstaaten, in Deutschland zu arbeiten, so sie einen Arbeitsvertrag vorweisen können und ihre Qualifikation anerkannt ist. Akademiker und Personen mit anerkannter Berufsausbildung sowie Schulabsolventen können sechs Monate ins Land kommen, um sich einen Arbeits- respektive Ausbildungsplatz zu suchen. Trotzdem muss sich Deutschland aktiver als bisher um die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften kümmern, vor allem aus Drittstaaten. Das Potenzial für Zuwanderung aus EU-Ländern ist begrenzt und auf mittlere Sicht fehlt es dort ebenfalls an Erwerbsfähigen. Zusätzlich gilt es die Bildungs- und Arbeitsintegration von Geflüchteten zu verbessern und diese im Erfolgsfall möglichst schnell mit einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung zu belohnen.

Deutschland sollte seine Rolle als Pionier im demografischen Wandel deutlich ernster nehmen und eine Blaupause für ein Wohlergehen alternder und irgendwann schrumpfender Gesellschaften erarbeiten. Sonst machen es andere. Altern und Schrumpfen ist auf mittlere Sicht das Modell für die ganze Welt. Ob es uns gefällt oder nicht.

29.11.2021

Ist das nur neu oder schon normal?

Warum sich die reichen Demokratien auf ein Ende des Wachstums vorbereiten müssen

Seit Generationen ist Wirtschaftswachstum etwas Normales, vor allem für die Menschen in den weit entwickelten Ländern. Beginnend mit der industriellen Revolution, beschleunigt durch epochale Erfindungen wie die Elektrizität, den Verbrennungsmotor oder den Transistor und unterstützt durch neue politische und wirtschaftliche Freiheiten von Demokratien hat sich das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den letzten 200 Jahren weltweit etwa verdreißigfacht. Die Menschen sind im Schnitt also ungefähr 30-mal reicher geworden.

Daran kann man sich gewöhnen. Kein Wunder, dass sich die meisten Menschen weiteres Wirtschaftswachstum wünschen. Für Ökonomen ist es quasi eine Naturkonstante. Und die Politik ist auf Wachstum angewiesen. Sie braucht es derzeit ganz besonders, um die Folgen der Corona-Pandemie zu bewältigen, um die Alterung der Gesellschaften zu finanzieren, um die Energiewende zu stemmen und um die Staatsschulden nicht ins Astronomische wachsen zu lassen. Unternehmen benötigen Wachstum für Investitionen und um Arbeitsplätze zu sichern. Die Volkswirtschaften der Welt stecken in einer massiven Abhängigkeit vom Wachstum.

Wachstum über alles

Wirtschaftswachstum bedeutet nichts anderes, als eine steigende Zahl von Gütern und Dienstleistungen in Umlauf zu bringen. Damit wird aber auch der ökologische Fußabdruck des um sich greifenden Wohlstands immer größer, denn Kühlschränke und Elektroautos, Arbeiten wie Amazon-Pakete ausfahren und Coronapatienten betreuen lassen sich nicht ohne Energieaufwand und Rohstoffeinsatz darstellen. Zusätzlich fallen am Ende von Produktion und Leistung immer Abfallstoffe an. Genau deshalb erleben wir den Klimawandel, das Artensterben, die Vermüllung der Ozeane und so weiter.

Das Wachstum zu reduzieren wäre somit aus ökologischen Gründen eine naheliegende Idee. Aber die oben beschriebene Abhängigkeit verbietet es diesen Weg politisch zu gehen. Keine Partei würde sich hinstellen und sagen: „Leute, jetzt aber bitte mal halblang mit dem Konsum, damit wir den Klimawandel bremsen können.“ Keine Regierung wird sich eine De-Growth-Strategie ins Programm schreiben. Im Gegenteil tut die Politik alles, um das Wachstum anzukurbeln. Sie erfindet Wachstumsbeschleunigungsgesetze, legt Konjunkturprogramme auf, senkt Steuern, um den Konsum anzukurbeln oder hält die Zinsen niedrig, in der Hoffnung, dass die Unternehmen mehr investieren.

Gehen die goldenen Zeiten des „immer mehr“ zu Ende?

Gut möglich, dass sich die Politik dabei auf einen Kampf gegen Windmühlenflügel eingelassen hat. Denn Wirtschaftswachstum ist keineswegs eine Konstante in der menschlichen Geschichte. Die 200-jährige Erfolgsstory seit der industriellen Revolution scheint vielmehr ein historischer Ausreißer zu sein. Und gerade in den erfolgreichen, demokratisch geführten Nationen, die am meisten von dem steigenden Wohlstand profitiert haben, klingt das Wachstum unabhängig von kurzfristigen Konjunkturzyklen langsam aus. In Deutschland etwa erreichte es in den 1950ern noch acht Prozent, heute liegt es im Mittel der letzten zehn Jahre noch bei gut einem Prozent. Ähnliche Rückgänge verzeichnen alle weit entwickelten Länder und die Schwellenländer folgen zeitversetzt dem gleichen Trend.

Für die Abwärtsentwicklung gibt es verschiedene strukturelle Gründe, gegen die sich mit den gängigen, Konjunktur fördernden Konzepten wie staatlichen Investitionsprogrammen oder Zinssenkungen gar nichts ausrichten lässt. Erstens klingt das Bevölkerungswachstum, das lange ein Haupttreiber für das Wirtschaftswachstum war, in den reichen Ländern aus und die Gesellschaften altern. Zweitens erhöhen sich, trotz Digitalisierung und Robotisierung, die Innovationskraft und die Produktivität immer langsamer, weil heutigen Erfindungen weniger Durchschlagskraft innewohnt als einst der Dampfmaschine oder dem Automobil. Man sehe das Computerzeitalter überall, nur nicht in der Produktivitätsstatistik, hat der Ökonomie-Nobelpreisträger Robert Solow einmal angemerkt. Drittens nimmt in vielen Gesellschaften die Ungleichheit zu und begrenzt die Konsummöglichkeiten der unteren Einkommensschichten. Und viertens wirken sich ökologische Schäden zunehmend bremsend auf die wirtschaftliche Entwicklung aus, wobei man die Corona-Pandemie gut und gerne als Folge von Umweltfrevel hinzurechnen kann.

Der US-Ökonom Lawrence Summers, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, bezeichnet die Schwächephase als „säkulare Stagnation“, als eine Wachstumsanämie, die über sehr lange Zeit andauert. Andere Wissenschaftler sprechen von dem „New Normal“, von einer neuen Normalität für die weit entwickelten Volkswirtschaften, von einem Ende des Wachstums nicht etwa aus ökologischen Überlegungen, sondern durch die Hintertür eines strukturellen Wandels.

Schon 2017 hat das Berlin-Institut für Bevölkerung eine längere Studie („Was tun, wenn das Wachstum schwindet?“) veröffentlicht, die sich mit den Hintergründen der Wachstumsverlangsamung beschäftigt hat, mit den Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft und mit dem Unwillen der Politik, sich auch nur theoretisch mit diesen Fragen zu beschäftigen. Damals waren die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 gerade überstanden und die Welt befand sich in einem wirtschaftlichen Zwischenhoch. Entsprechend gering war das öffentliche Interesse sich mit den Ursachen für stagnierende Volkswirtschaften auseinanderzusetzen. Die Studie hatte nicht die erhoffte Resonanz.

Mittlerweile hat die Weltgemeinschaft pandemiebedingt die nächste große Krise erlebt, mit einem Wachstumseinbruch, der den von 2008 noch übersteigt. Beide Ereignisse zeigen, dass es bei der Beurteilung von langfristigen Wachstumstrends nicht auf die Ausreißer nach unten oder oben ankommt, sondern immer auf die langjährigen Durchschnittswerte. Und die weisen kontinuierlich nach unten.

Interessanterweise ist gerade jetzt im englischen Fachblatt Nature Human Behaviour ein Beitrag eines interdisziplinären Forscherteams um den Umweltökonomen Matthew G. Burgess von der Universität von Colorado in Boulder erschienen („Prepare developed democracies for long-run economic slowdowns“), die sich exakt mit den gleichen Fragen beschäftigt wie die Studie des Berlin-Instituts viereinhalb Jahre zuvor und auch zu den gleichen Ergebnissen kommt. Beide Publikationen mahnen an, dass die Wissenschaft dringend der Frage nachgehen sollte, ob und wie entwickelte Gesellschaften für ein Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger sorgen können, wenn das Wachstum weiter zurückgeht oder ganz versiegt.

Bisher ist dieses Wohlergehen keinesfalls gesichert, denn unter heutigen Rahmenbedingungen würde ein Ende des Wachstums sinkende Gewinnaussichten für die Unternehmen bedeuten, geringere Investitionen, erlahmenden technischen Fortschritt und wachsende Arbeitslosenzahlen, vor allem unter jungen Menschen. Das Vertrauen der Menschen in das gebetsmühlenhafte Versprechen von stetig wachsendem Wohlstand würde kollabieren, die Politikverdrossenheit zunehmen. Denn eine stagnierende Wirtschaft, heißt es in dem Papier von Burgess und Co., erzeuge mehr ökonomische Verlierer, erhöhe Konkurrenz und Ungleichheit in der Gesellschaft und gefährde den Zusammenhalt. Gleichzeitig beschneide es die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates, der weniger in den sozialen Ausgleich und die Bildung investieren könne. Politische Krisen dieser Art würden den Aufstieg populistischer Kräfte wahrscheinlicher machen.

Wirtschaftswachstum sei „ein unabdingbarer Wegbereiter für Toleranz und Offenheit in der Gesellschaft“, hatte schon 2005 der Harvard-Ökonom Benjamin M. Friedman geschrieben. Bei dem Verlust eines „robusten Wachstums“ sah Friedman die soziale Sicherheit gefährdet und den Zerfall hochentwickelter Gesellschaften wie den USA, Deutschland oder Frankreich voraus. Die Tatsache, dass in diesen Ländern gerade die vom Strukturwandel und Arbeitslosigkeit gebeutelten Regionen zu Hochburgen populistisch-radikaler Parteien geworden sind, scheint Friedmans These zu stützen.

Eine zentrale Frage angesichts einer möglichen säkularen Stagnation ist deshalb, ob Demokratien, die einst ein Garant für Wachstum waren, die Kraft haben weiter zu existieren, wenn es endet. „Generell haben Demokratien Zugewinne in politischer, ökonomischer und intellektueller Freiheit gebracht“, schreibt das amerikanische Forscherteam. „Diese Freiheiten, gekoppelt mit einer Rechtsstaatlichkeit waren die wesentlichen Treiber des Wachstums“. Wirtschaftswachstum war demokratiefördernd, weil es unter diesen Bedingungen leichter war, den Wohlstand in der Breite der Gesellschaft zu verteilen. Diese ökonomische Teilhabe wiederum war wachstumsfördernd, weil sie den Massenkonsum von immer mehr Menschen möglich machte. Letztlich war es ein gegenseitiges Hochschaukeln von bürgerlichen Freiheiten und Wachstum, das zum Erfolg von Demokratien beigetragen hat. Unter anderem deshalb gab es in der Zeit vor der industriellen Revolution kaum Demokratien, nach zwei Jahrhunderten Wachstum und Wohlstandmehrung aber leben 55 Prozent aller Menschen in dieser Staatsform.

Was aber können Demokratien tun, wenn ihnen eine wesentliche Grundlage ihrer Entstehung abhandenkommt? Dazu gebe es schlicht und einfach keine empirische Erkenntnis, erklärt Burgess, der einräumt, dass er mit seiner Publikation auch kein Patentrezept für ein Wohlergehen der Gesellschaften ohne Wachstum parat hat: „Das Hauptziel unseres Papiers ist es, wenigstens mal eine Diskussion zu dem Thema zu starten.“

22.11.2021

Dem Osten gehen die Menschen aus

Was bringt Wirtschaftsförderung, wenn die Arbeitskräfte fehlen?

Die Bertelsmann-Stiftung, das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und die Bundesagentur für Arbeit (BA) schlagen Alarm: Es mangelt allerorts und in einer wachsenden Zahl von Branchen an Arbeitskräften, vor allem an Personen mit spezieller Ausbildung, von Pflegekräften über Handwerker bis hin zu IT-Experten und LKW-Fahrern. Händeringend suchen Betriebe nach Auszubildenden. Das bedeute das „Konjunkturrisiko Nummer eins“, schreibt das IW. Denn wo Arbeit vorhanden ist, aber niemand, der sie erledigen kann, geht potenzielle Wirtschaftskraft verloren.

Hinter der Krise steckt weniger eine boomende Ökonomie als vielmehr der demografische Wandel. Insofern kommt der Fachkräftemangel nicht überraschend, denn dass die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, die lange Zeit für eine gute Wirtschaftsleistung und hohe Einnahmen der Steuer- und Sozialkassen standen, sich jetzt Zug um Zug in den Ruhestand verabschieden, ist alles andere als neu. Im Grunde ist seit dem Geburteneinbruch in den 1970er Jahren, dem sogenannten Pillenknick, klar, dass Deutschland auf eine massive Alterung der Belegschaften wie auch der gesamten Bevölkerung zusteuert. Den Babyboomern folgen deutlich dünner besetzte Nachwuchsjahrgänge, weshalb es mittlerweile weniger potenzielle Arbeitskräfte gibt, als die Unternehmen oder die Verwaltung nachfragen. Dieser Mangel wird sich weiter verschärfen, denn die 55- bis 65-Jährigen, also die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auf dem Weg in die Rente oder Pension sind, stellen derzeit die kopfstärkste Gruppe im Bevölkerungsaufbau Deutschlands.

Ganz schön alte „neue“ Bundesländer

Das gilt nicht nur für die „alten“, westlichen Bundesländer, wo 82 Prozent aller bundesweit Beschäftigten arbeiten, sondern noch viel stärker für die „neuen“, demografisch aber deutlich älteren östlichen. Denn letztere hatten wendebedingt einen demografischen Doppelschock zu verdauen: Aus der ehemaligen DDR waren, beginnend direkt nach dem Mauerfall, rund 1,8 Millionen überwiegend junge, gut qualifizierte Menschen gen Westen abgewandert, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. Die Arbeitslosigkeit im Osten und bessere Einkommens- oder Ausbildungsmöglichkeiten im Westen waren die Triebkräfte dieser Völkerwanderung. Darüber hinaus waren die Geburtenziffern zwischen Rügen und dem Erzgebirge in den 1990er Jahren drastisch eingebrochen, so dass für eine Weile gegenüber der Vorwendezeit nur noch halbierte Jahrgänge zur Welt kamen. Zeitversetzt zu dem Geburtenrückgang kam es entsprechend zu einem Rückgang der Schulabsolventen, später zu einer Halbierung bei den Auszubildenden und Studierenden. Und heute mangelt es an jungen Menschen, die in den Arbeitsmarkt einsteigen und ihrerseits Kinder bekommen. Demografische Ausschläge haben stets ihre Echoeffekte.

Erst 2013 kam die Abwanderung Ost zu Erliegen. Seither ist der Wanderungssaldo einigermaßen ausgeglichen, das heißt, es ziehen im Schnitt etwa genauso viele Menschen von Ost nach West wie umgekehrt. Auch die Geburtenziffern haben sich von ihrem Nachwende-Tief wieder erholt und liegen heute sogar leicht über dem Westniveau. Doch diese „Normalisierung“ bedeutet nicht, dass der demografische Wandel im Osten bewältigt wäre, wie manche Politiker oder Unternehmer suggerieren. Denn die einst gerissenen Lücken in der demografischen Zusammensetzung sorgen mittlerweile für einen demografischen Wandel 2.0.

Obwohl die Bevölkerung der DDR zum Zeitpunkt der Wende jünger war als jene im Westen, ist sie aufgrund der demografischen Verwerfungen in den Nachwendejahren inzwischen deutlich älter. Entsprechend stärker ausgeprägt ist die laufende Verrentungswelle. Die Folge: Immer mehr Arbeitgeber finden für ihre verrenteten Mitarbeiter keinen Ersatz mehr. Der Anteil an offenen Stellen ist im Osten höher als im Westen. Die Arbeitslosigkeit allerdings auch, was daran liegt, dass die Qualifikation der Arbeitsuchenden nicht immer zu den Ansprüchen der Arbeitgeber passt.

Die Alterung führt auch dazu, dass die Einwohnerzahlen vor allem in den ostdeutschen Flächenländern Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weiter sinken werden, denn bis 2035 werden dort deutlich mehr Menschen auf ihre letzte Reise gehen, als Neugeborene hinzukommen. Das gilt besonders für Sachsen-Anhalt, das bis 2035 gegenüber 1990 mit rund 40 Prozent weniger Einwohnern zu rechnen hat. In manchen Landkreisen, wie dem brandenburgischen Spree-Neiße-Kreis, dürften im Jahr 2035 auf eine Geburt vier Beerdigungen kommen. Von den Ost-Bundesländern kann nur Berlin nebst seinem angrenzenden Brandenburger Speckgürtel mit steigenden Einwohnerzahlen rechnen.  

Die schrumpfende Mitte

Den relativ größten Einbruch wird die demografische Mitte der Gesellschaft erleben, also die Altersgruppe der Menschen im typischen Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren. Schlicht und einfach, weil aus dieser Kohorte oben deutlich mehr Personen herauswachsen, als unten hinzukommen. Das gilt für ganz Deutschland – und wiederum besonders für den Osten. Bundesweit können nur wenige attraktive urbane Standorte mit guten Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten damit rechnen durch Zuwanderung aus dem In- und Ausland Mitglieder dieser Altersgruppe hinzuzugewinnen. In entlegenen östlichen Regionen hingegen, die schon heute stark gealtert und geschrumpft sind, wie dem Süden Brandenburgs, dem thüringischen Landkreis Greiz oder dem Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt, dürfte die Zahl der Erwerbsfähigen bis 2035 gegenüber heute um rund 30 Prozent sinken. Die Hoffnung, dass diese Gebiete wirtschaftlich aufholen, dürfte reine Fiktion bleiben.

Zwar gibt es überall in diesen Gebieten kleinere und größere Unternehmen, welche die wirtschaftlich schweren Nachwendejahre in Ostdeutschland überlebt haben oder neu entstanden sind und für Beschäftigung sorgen. Doch sie sind jetzt gefährdet, weil sie oft nicht mehr wissen, wo sie überhaupt noch Mitarbeiter herbekommen sollen. Das gilt besonders für jene Regionen, die durch das geplante Ende der Braunkohleförderung vor einem heftigen Strukturwandel stehen, in der Lausitz im Süden Brandenburgs und im Osten des Freistaates Sachsen, aber auch in Sachsen-Anhalt. Rund 180.000 Arbeitsplätze sind seit der Wende in der Kohle- und Kraftwerkswirtschaft und anderen Betrieben allein in der Lausitz verloren gegangen und haben zu einem Teil-Exodus geführt. In dem Lausitz-Städtchen Weißwasser beispielsweise leben heute keine 16.000 Menschen mehr, bis zum Mauerfall waren es noch 40.000.

Die Bundesregierung, die den Kohleausstieg aus Klimaschutzgründen womöglich noch beschleunigen wird, will den wirtschaftlichen Umbruch bis 2038 über das „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ mit insgesamt 40 Milliarden Euro an Strukturhilfen abfedern, die Lausitz hofft auf einen Anteil von 17 Milliarden. Die betroffenen Gebiete sollen „eine echte Chance erhalten, nach dem Kohleausstieg besser dazustehen als zuvor“, heißt es vom Bundeswirtschaftsministerium. Mit dem Geld sollen unter anderem Forschungsinstitute an- und Bundeseinrichtungen umgesiedelt oder die Verkehrsinfrastruktur ausgebaut werden, in der Hoffnung, dass sich Menschen und Firmen neu in den Braunkohleregionen ansiedeln. Manches tut sich bereits: So baut der Chemiekonzern BASF mit 175 Millionen Euro Fördermitteln in Schwarzheide eine Fabrik für Kathoden, wichtige Bauteile für die Fertigung von Batterien für die Elektromobilität. Die deutsch-kanadische Firma Rock Tech errichtet für eine knappe Milliarde Euro eine Anlage für die Produktion von Lithiumhydroxid, die einmal das Material für rund 500.000 Elektroautobatterien liefern soll.

Dennoch ist die Gefahr ist groß, dass ein erheblicher Teil der Fördermittel ins Leere läuft, denn in der Region fehlt es schon heute an qualifizierten Arbeitskräften. Zudem lässt sich nicht jeder Kohlekumpel aus dem Tagebau und jede Maschinistin aus den Kraftwerken zu Experten für „hybride Leichtbaustrukturen“ oder die „Dekarbonisierung von Industrieprozessen“ umschulen, um nur zwei Anforderungsprofile für die erhofften Ansiedelungen zu nennen. Ob allzu viele Menschen bereit sind für die zu schaffenden Jobs von anderswoher in die peripher gelegenen Kohlereviere zu ziehen, die auch wegen ihrer Wahlergebnisse (knapp 30 Prozent für die AfD) nicht den besten Ruf haben, ist eine weitere Frage. Ebenso, ob ausgerechnet eine Region, in der lange Zeit eine planwirtschaftliche Monostruktur für Arbeit und Auskommen gesorgt hat, das Potenzial für eine kreative Gründerszene hat. Hinzu kommt, dass sich auch im hochattraktiven Großraum Berlin Tech-Unternehmen ansiedeln, die ebenfalls auf Fachkräfte angewiesen sind. Allein die sogenannte Gigafactory von Tesla im brandenburgischen Grünheide dürfte mittelfristig mindestens 12.000 Arbeitskräfte vom Markt saugen.

Jede neu geschaffene Stelle, so sinnvoll sie auf den ersten Blick sein mag, verschärft die Konkurrenz um Bewerber zwischen Unternehmen, Branchen und Regionen. Ein Teil der Jobs ließe sich also nur besetzen, wenn die Arbeitnehmer aus anderen Bereichen abgezogen würden. Mit guter Bezahlung wäre das sicherlich möglich, aber das wiederum würde alteingesessene Betriebe und Unternehmen gefährden. Darunter würden auch die Kommunen in den betroffenen Gebieten leiden, die ihre Fachkräfte tendenziell schlechter bezahlen als die Privatwirtschaft und längst verzweifelt nach gut ausgebildeten Mitarbeitern suchen, vor allem um die dringend notwendige Digitalisierung der Verwaltungen voranzutreiben.

Wie ist den Revieren zu helfen?

Was also wäre zu tun, um die Regionen nicht noch stärker schrumpfen zu lassen, um die 40 Milliarden Strukturhilfen halbwegs effizient auszugeben und um die neuen Arbeitsplätze, die sich alle wünschen, auch besetzen zu können? Zwei Maßnahmen stehen dabei im Vordergrund:

Erstens bräuchten die bald schon stillgelegten Kohlereviere, die als Innovationszentren auferstehen sollen, Zuwanderung an Fachkräften und Gründern sowie private Investoren. Die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften in Deutschland erfordert seit vielen Jahren Unterstützung aus dem Ausland, im Westen wie im Osten. Detlef Scheele, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, vermeldet, Deutschland benötige rund 400.000 zugewanderte Arbeitskräfte pro Jahr, um das Erwerbspersonenangebot stabil zu halten. Ostdeutschland liefert aber bis dato kein Modell für die notwendige Aufnahmebereitschaft von Zugewanderten. Zwar hat sich der Anteil von Ausländern unter den Beschäftigten auf mittlerweile über 8 Prozent erhöht, sie arbeiten vorwiegend in den größeren Städten. Im Westen, der auf eine weitaus längere Zuwanderungsgeschichte zurückblicken kann, liegt er aber bei 15 Prozent.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus dem Jahr 2020 macht es mittlerweile einfacher als je zuvor qualifizierte Mitarbeiter aus Drittstaaten zu rekrutieren. Dafür müssten sich Unternehmen und Regionalpolitik aktiv um eine Anwerbung kümmern. Sie müssten sich zudem um eine gesellschaftliche Integration von Zugewanderten bemühen, was in Regionen mit hohem rechtsradikalen Wähleranteil kein Selbstgänger ist. Die Bundesregierung sollte zudem einen „Spurwechsel“ von Geflüchteten ermöglichen, die in Deutschland in Ausbildung oder bereits in Beschäftigung sind, aber keinen anerkannten Schutzstatus haben. Diesen Personen droht ständig eine Abschiebung, obwohl sie bereits wesentliche Schritte einer Integration hinter sich haben. Sie nicht für den Arbeitsmarkt zu nutzen, ist eine Verschwendung von Humanpotenzial.

Zweitens müssen die Regierungsverantwortlichen einer weiteren Verschwendung von Humanpotenzial vorbeugen und die Bildungserfolge der jungen Generation in den vom Strukturwandel gebeutelten Gebieten verbessern. Denn ausgerechnet dort erreichen viele Jugendliche (überwiegend Jungen) nicht mal einen Hauptschulabschluss. Diese Schulabbrecher haben in ihrem späteren Leben wenig Chancen auf einen ertragreichen Job und sie stellen kaum das Arbeitskräftepotenzial, das sich die Bundesregierung mit ihrem Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen vorstellt. Im brandenburgischen Braunkohle-Landkreis Oberspreewald-Lausitz blieben 2019 rund 10 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss, im Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt, einer klassischen Bergbauregion mit weitgehend stillgelegten Betrieben, sogar 13 Prozent.

Wenn es gelänge, zumindest einem Teil dieser jungen Menschen bessere Abschlüsse zu ermöglichen, stellt sich die nächste Frage: Wie lassen sie sich vor Ort halten, damit sie sich dort wirtschaftlich verdient können? Bildung, so notwendig sie für die Jugendlichen wie auch für die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Heimatregionen ist, hat nämlich einen Nebeneffekt: Sie erleichtert es aus strukturschwachen Gebieten abzuwandern und anderenorts einen Job zu finden. Genau aus diesem Grund haben periphere Regionen überall in Deutschland in der Vergangenheit junge, qualifizierte Kräfte verloren – im Osten mehr als im Westen.

02.11.2021

China auf dem Zenit

Neue Weltmacht mit fragiler Zukunft

China gibt den Ton an. Zumindest für den Moment. China baut zehnstöckige Hochhäuser in 29 Stunden, produziert weltweit die meisten Elektroautos, betreibt die leistungsfähigsten Supercomputer, ist führend in der Drohnentechnologie und meldet mit Abstand die meisten Patente an, doppelt so viele wie die USA. Nirgendwo wird die Bevölkerung akribischer überwacht und auf staatstragendes Verhalten getrimmt als in dem 1,4-Milliarden-Staat. Keine Volkswirtschaft jagt mehr klimaschädliche Treibhausgase in die Atmosphäre. China ist der Dominator. Kein Wunder, dass der britische Economist schon 2018 das „chinesische Jahrhundert“ ausrief.

Tatsächlich hat das Land, das nach Maos Kulturrevolution einem selbstgezimmerten Armenhaus glich, seit Mitte der 1980er Jahre eine einzigartige Aufholjagd hingelegt und sich binnen weniger Jahrzehnte zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt emporgearbeitet. Es hat 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt, bildet die besten Schüler aus und dürfte bis 2023 die USA bei den Investitionen in Forschung und Entwicklung überholen. Chinesische Studenten sind weltführend in den Disziplinen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen.

Wird China ein zweites Japan?

Doch Vorsicht vor zu viel China-Euphorie: Der derzeitige Entwicklungshype erinnert stark an ein anderes asiatisches Land der späten 1980er Jahre. Japan galt damals als Morgenland, als High-Tech-Schmiede der Zukunft. Die Regierung hatte massiv in das „Technopoliskonzept“ investiert und Technologieparks, Universitäten und Unternehmen zu einer Innovationsmaschine gebündelt. Firmen wie Hitachi, Nikon, Sony oder Panasonic dominierten den Weltmarkt und trieben nicht mehr konkurrenzfähige Unternehmen aus dem Westen reihenweise in den Ruin. Der Rest der Welt war abgehängt.

Dann aber kam die große Ernüchterung. Der japanische Aktienindex Nikkei erreichte 1989 seinen historischen Höchststand, halbierte sich innerhalb kurzer Zeit und konnte nie mehr an die alten Erfolge anknüpfen. An der Börse und auf dem Immobilienmarkt platzten damals die Blasen, die Innovationskraft sank und die Arbeitslosigkeit, lange Zeit ein Fremdwort in Japan, stieg. Seither pumpt die Regierung Abermilliarden in Wachstumsprogramme (ohne großen Erfolg) und treibt den Staatshaushalt im immer rotere Zahlen. Heute ist das einstige Wunderland mit 266 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes verschuldet, das ist Rekord unter den Industrienationen.

Die Gründe für den Absturz Japans waren vielfältig, aber ein gewichtiger war die Demografie. Das Land hatte Anfang der 1970er Jahre seinen Babyboom erlebt, als Japanerinnen im Schnitt über zwei Kinder bekamen. Dann gingen die Kinderzahlen kontinuierlich zurück, so dass zeitversetzt Anfang der 1990er Jahre immer weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintraten. Ein solcher Rückgang an Nachwuchskräften ging in vielen Ländern der Welt mit einem Wirtschaftseinbruch einher. Seit 1995 schrumpft in Japan die Gruppe der sogenannten Erwerbsfähigen zwischen 16 und 65 Jahren. Gleichzeitig wächst die Zahl der Rentner und Hochaltrigen, die es sozial und medizinisch zu unterstützen gilt. Bereits heute sind rund 30 Prozent der Japanerinnen oder Japaner über 64 Jahre alt; 87.000 von ihnen sind 100 Jahre und älter. Das sind keine guten Nachrichten für Produktivität und Innovationskraft.

Demografisch hat China eine ähnliche Entwicklung vor sich, nur wird sie deutlich heftiger ausfallen als in Japan. Chinas Babyboom rührt noch aus Maos Zeiten: Mitte der 1960er Jahre bekamen die Frauen im Schnitt 6,3 Kinder. Die damals geborene kopfstarke Generation war der Motor für die von Deng Xiaoping 1978 angezettelte Wirtschaftsliberalisierung. Zu versorgende Kinder und Ältere gab es zu diesem Zeitpunkt wenige und die Regierung konnte sich ganz auf den ökonomischen Aufschwung konzentrieren. Junge Menschen waren im Überfluss vorhanden, Millionen von ihnen fanden Jobs in der Baubranche und der Turbo-Industrialisierung. Ihre Einkommen flossen in den Konsum und zogen weiteres Wirtschaftswachstum nach sich. China konnte eine „demografische Dividende“ einfahren wie kaum ein zweites Land. Die Planwirtschaft feierte ihre historisch größten Erfolge.

Der lange Schatten der Ein-Kind-Politik

Doch wie überall altern die Babyboomer irgendwann, wobei es in China überproportional viele sind. Denn die rigorose Ein-Kind-Politik des Landes sorgte dafür, dass der Boomer-Generation nur noch deutlich dünner besetzte Jahrgänge folgten. Heute sind 1,3 Kinder je Frau die Norm, einer der niedrigsten Werte weltweit, auch wenn die Propaganda längst wieder mehr Nachwuchs einfordert. Und das bedeutet mittlerweile einen Mangel an Arbeitskräften bei steigenden Löhnen. Bis 2040 dürfte den UN-Bevölkerungsprognosen zufolge die Erwerbsbevölkerung um zehn Prozent schrumpfen. Im gleichen Zeitraum wird der Anteil der Ruheständler um 50 Prozent wachsen, mit der Folge explodierender Kosten in den Sozial- und Gesundheitssystemen. Die aber sind bis dato schlecht aufgestellt, so dass all jene, die ihre Alters- und die medizinische Versorgung nicht privat stemmen können, damit rechnen müssen, ihren Lebensabend in beschränkten Verhältnissen zu verbringen. Nach 2040 steht China dann vor einer „Superalterung“, die jene in Japan in den Schatten stellt. Wobei Japan immerhin schon ein reiches Land war, als die Alterung der Gesellschaft einsetzte, während China noch ein deutlich ärmeres Land sein wird, wenn die Alterung zu einer finanziellen und sozialen Belastung wird.

China hat nach 40 Jahren Aufschwung wenig Erfahrung mit Krisen, die grundlegend neue Konzepte und tiefe Einschnitte in liebgewonnene Privilegien und den neuen Wohlstand erfordern. Und die Herausforderungen gehen weit über die Demografie hinaus. Auch in China kostet die Bewältigung der Coronakrise einen Haufen Geld, das anderswo für Zukunftsinvestitionen fehlt. Wie in anderen gereiften Volkswirtschaften sinken auch im Reich der Mitte längst die Produktivitätszuwächse, was künftiges Wirtschaftswachstum erschwert. Wie einst in Japan hat sich eine gewaltige Blase am Immobilienmarkt gebildet, weil die Menschen in China zum Sparen neigen und Wohnungen und Häuser zu Phantasiepreisen kaufen, um ihr Geld zu parken. Davon hat zwar bislang die Bauwirtschaft profitiert, die für 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich ist. Doch eine Krise am Bau, etwa ausgelöst durch die dräuende Insolvenz des mit umgerechnet 300 Milliarden US-Dollar verschuldeten Immobilienentwicklers Evergrande, könnte wie einst die Lehmann-Pleite ein wirtschaftliches Beben auslösen, das weit über China hinausgeht. Ohnehin ist im letzten Jahrzehnt die Verschuldung Chinas massiv gestiegen, vor allem der Unternehmen und privaten Haushalte. Sie liegt bei über 210 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit deutlich höher als in den USA oder der Euro-Region.

Die Ausbeutung der Natur und ihre Folgen

Auch die Umweltschäden machen China mehr und mehr zu schaffen und bremsen das Wachstum. So ist die Wirtschaft nach wie vor auf eine Energieversorgung angewiesen, die im krassen Gegensatz zu den offiziellen Klimazielen des Landes stehen. Zwei Drittel der Elektrizität stammen aus Kohlekraftwerken, die für den berüchtigten Smog über weiten Teilen des Landes verantwortlich sind. Nach einer Publikation des britischen Fachblatts The Lancet lässt die dreckige Luft jährlich über eine Million Menschen vor ihrer Zeit versterben. Das Kohlendioxid aus den Kraftwerksschloten macht China zum mit Abstand größten Treibhausgasemittenten der Welt. Und trotzdem reicht der Strom nicht aus. Netzunterbrechungen häufen sich, was wiederum die Wirtschaft lähmt.

Kein Wunder, dass auch China den Klimawandel längst zu spüren bekommt: Das Land erlebt vermehrt Hitzewellen, ebenso schwerste Regenfälle, Starkregen und Schlammlawinen, die allein in der zentralchinesischen Provinz Henan im Sommer 2021 über 300 Tote gefordert haben. Dürren und Überschwemmungen beeinträchtigen die Stromerzeugung der Wasserkraftwerke, wie dem gigantischen Dreischluchten-Damm. Der Anstieg der Meeresspiegel gefährdet besonders die boomenden Städte an der Küste und damit das Herz der Wirtschaft. Das Perlflussdelta mit der Metropole Shanghai, wo fast so viele Menschen zuhause sind wie in ganz Frankreich, gilt als die am stärksten durch Fluten bedrohte urbane Großregion der Welt.

China bekennt sich zwar auch dazu, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen und plant seine Emissionen bis 2060 auf Netto-Null herunterzuschrauben. Doch wie die Ziele anderer Länder auch sind dies nur erklärte Absichten. Nach Analysen der Organisation Climate Action Tracker (CAT) sind Chinas bisherige Klimaschutzbemühungen gerade mal in der Lage, mitzuhelfen, den globalen Temperaturanstieg auf drei Grad zu begrenzen, mit katastrophalen Folgen für das eigene Land. Anders als in den meisten anderen Ländern sind die Emissionen selbst im Coronajahr 2020 weiter gestiegen. Entsprechend erhält die Klimapolitik des Landes von CAT den Stempel „unzureichend“. 

Weil die Regierung Chinas den Klimawandel als globales Problem hinstellt, die Auswirkungen im eigenen Land aber herunterspielt, die kommunistische Partei ihre Bevölkerung also bewusst ahnungslos hält, wissen die wenigsten Chinesen weder, welche Folgen ihnen bei der anstehenden Erwärmung drohen, noch, was es für ihren Alltag bedeutet, wenn das Land tatsächliche Klimaschutzmaßnahmen einleiten würde. Bei einer Umfrage aus dem Jahr 2021 des China Youth Climate Action Network jedenfalls gaben fast 60 Prozent der Befragten völliges Unwissen um Klimawandel-Zusammenhänge zu Protokoll.

Wie reformfähig ist die Kommunistische Partei?

Bislang erweckt die chinesische Staatsführung nicht den Eindruck, als sei sie in der Lage, die wahren Probleme zu erkennen, geschweige denn deren Lösungen auf den Weg zu bringen. Die einst so erfolgreiche Planwirtschaft ist mit Phänomenen wie dem Klima- oder dem demografischen Wandel konfrontiert, die sich nichtlinear entwickeln, flexible Antworten erfordern und mit planwirtschaftlichen Methoden nicht zu beherrschen sind. Verkrustete politische Strukturen erschweren zudem den Ausweg aus der multidimensionalen Krise. So mahnt die Weltbank klare staatliche Wirtschaftsregeln an, um die Sicherheit von Investitionen zu garantieren. Die enorm gestiegene Einkommensungleichheit müsse über eine progressive Besteuerung eingedämmt werden, funktionierende Sozialsysteme aufgebaut und die Mittelklasse gestärkt werden, damit der Binnenkonsum als Wachstumstreiber anspringt. Ein weiteres Hindernis ist die grassierende Finanzkriminalität und Korruption. Vor allem in der lokalen Verwaltung halten die Beamten gerne ihre Taschen auf. Auch im Bildungs-, Gesundheits- oder Rechtssystem geht wenig ohne Bestechung. Auf dem Index für wahrgenommene Korruption von Transparency International rangiert China auf Platz 78 von 180 Ländern, nach Ländern wie Südafrika, Rumänien oder Belarus.

Chinas Führung reagiert zunehmend autoritär auf die neuen Herausforderungen. Xi Jinping hat mehr Macht an sich gerissen als alle seine Vorgänger, mit Ausnahme von Mao Zedong. Er fordert mehr Patriotismus und weniger Einfluss der Milliardäre. Politische Rivalen verschwinden aus der Öffentlichkeit, Minderheiten wie Tibeter oder Uiguren werden unterdrückt. Die Bevölkerung Chinas hat sich politische Mitspracherechte lange Zeit vorenthalten lassen, zumindest solange sich die Wirtschaft gut entwickelte und alle vom wachsenden Wohlstand profitierten. Bei den rückläufigen Wachstumsaussichten dürfte sie ihre Unzufriedenheit künftig stärker zum Ausdruck bringen. Noch mehr Druck von oben dürfte die Folge sein. Bis der Dampf im Kessel der kommunistischen Partei so weit gestiegen ist, dass die Führung sich ein außenpolitisches Ablenkungsthema sucht, um die Bevölkerung wieder hinter sich zu vereinen.

Dass die Annexion des unabhängigen Taiwan direkt vor Haustür des „Mutterlandes“ eine realistische Variante einer solchen Politik ist, daraus hat Chinas Führung nie einen Hehl gemacht. Sie betrachtet Taiwan seit eh und je als Teil der großen Nation.

30.08.2021

Afghanistans Bevölkerungsproblem

Unter Taliban und Co. droht ein anhaltender Kreislauf aus Armut und hohen Geburtenziffern

Es gibt viele Gründe für die aktuell desolate Situation der Menschen in Afghanistan: Fremde Mächte, die in der Vergangenheit bar jeder Ortskenntnis versucht haben, das Land nach ihren Vorstellungen zu formen; ein korruptes, vom Westen alimentiertes politisches System, das bis vor wenigen Wochen erfolgreich in die eigene Tasche gewirtschaftet hat; ein Stammesdenken bärtiger Männer, das auf mittelalterlichen Vorstellungen beruht; und nicht zuletzt religiöse Eiferer verschiedenster islamistischer Gruppierungen, die traditionell die Hälfte der Bewohner Afghanistans entrechten wollen und deren wirtschaftliche Expertise im Wesentlichen auf Drogenhandel und Entführungen fußt. Ein weiterer, zentraler Grund für das Entwicklungsdesaster wird allerdings kaum diskutiert: das hohe Bevölkerungswachstum. Es würde es dem Land schon unter geordneten Verhältnissen schwermachen, die sozioökonomischen Verhältnisse zu verbessern. 

Afghanistan weist die mit Abstand höchsten Geburtenziffern unter allen asiatischen Staaten auf. 4,3 Kinder bekommt eine Frau im Schnitt, weltweit liegen nur afrikanische Länder über diesem Wert. Das Land am Hindukusch verzeichnet derzeit ein natürliches Bevölkerungswachstum (ohne Migrationseinflüsse) von 2,7 Prozent im Jahr. Unter diesen Bedingungen verdoppelt sich die Bevölkerung binnen 27 Jahren. Afghanistan hat heute 40 Millionen Einwohner, zweimal so viele wie noch 1999. Es wären ein paar Millionen mehr, hätten nicht viele ihr Land aus Not oder aus Furcht um ihr eigenes Leben verlassen. Für 2035 sind 55 Millionen Menschen zu erwarten, 2050 wären es nach Schätzungen des Washingtoner Population Reference Bureau (PRB) über 70 Millionen. Momentan wächst die Bevölkerung jeden Tag um 2.500 Häupter.

Das Land wächst sich um Kopf und Kragen                                                    

All diese Menschen brauchen Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Gesundheitsdienste, Schulen und Jobs. Obwohl rund die Hälfte der Menschen in kleinbäuerlichen Betrieben arbeiten, kann sich Afghanistan nicht annähernd mit Nahrungsmitteln versorgen.  Rund ein Viertel der Einwohner gilt als unterernährt. Das Land hat seit 2000 zwei Hungersnöte erlebt, die es nur mit massiver Unterstützung des World Food Programme einigermaßen überstehen konnte.

Die afghanische Volkswirtschaft ist seit 2015 im Schnitt nur um 1,6 Prozent gewachsen, also weniger stark als die Zahl der Menschen, mit der Folge, dass die Bevölkerung unterm Strich ärmer geworden ist. Ein Land mit diesem Entwicklungsstand bräuchte mindestens fünf Prozent Wirtschaftswachstum, um auch nur die Arbeitsplätze für die nachwachsenden Generationen zu schaffen. Afghanistan ist gemessen am Pro-Kopf-Einkommen der ärmste aller asiatischen Staaten. Wie schlecht es den Menschen geht, zeigt allein die Lebenserwartung: Sie ist mit durchschnittlich 65 Jahren die niedrigste in Asien.

Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt die landesweite Arbeitslosigkeit auf 30 Prozent, das wäre Weltrekord. Aber diese Zahl sagt wenig aus, weil die meisten Menschen im informellen Sektor beschäftigt sind, also nur Gelegenheitsjobs haben oder im Familienbetrieb aushelfen, mit schlechter Bezahlung und ohne jede soziale Absicherung. Und jedes Jahr drängen 400.000 neue junge Arbeitssuchende auf den Markt. Nötig wären private Unternehmensgründer, die all jene Dinge produzieren, die den Menschen das Leben erleichtern. Die Nachfrage dafür wäre enorm, denn es fehlt fast an allem. Aber die ohnehin kleine Mittelschicht, die so etwas leisten könnte, ist vertrieben oder geflohen.

Warum aber ist das Bevölkerungswachstum so hoch? Es ist die Folge schlechter Entwicklung, von Armut, Bildungsmangel, unzureichender Gesundheitsversorgung und Frauenbenachteiligung. Das sind die Rahmenbedingungen, die überall auf der Welt für hohe Geburtenziffern sorgen. Dass am Hindukusch seit 40 Jahren Krieg herrscht, macht die Sache nicht einfacher.

Die neuen Machthaber haben das Problem nicht erkannt

Im Umkehrschluss lässt sich anhand der Gründe für das hohe Bevölkerungswachstum die mögliche Lösung des Problems beschreiben: Wo immer auf der Welt sich die Gesundheitssysteme verbessert haben, wo Jugendliche (und zwar Mädchen wie Jungen) möglichst lange zur Schule gehen können, wo Frauen mehr Mitsprache in Familie und Gesellschaft erlangen und neue Arbeitsplätze entstehen, sind die Geburtenziffern rasch gesunken und die Pro-Kopf-Einkommen gestiegen.

Wer die neuen Mächte in Afghanistan sind, ist zwar längst nicht klar, aber eines ist sicher: Solange Taliban, IS, al-Qaida oder sonst eine islamistische Gruppe die Politik bestimmen, hat dieses Entwicklungskonzept keine Chance. Es wird sich vielmehr der Kreislauf aus Armut und hohen Kinderzahlen zementieren, denn Frauenrechte und Mädchenbildung stehen nicht gerade oben auf der Agenda der Djihadisten. Auch der Zugang zu sicheren Mitteln der Familienplanung und die Zusammenarbeit mit ausländischen Nicht-Regierungs-Organisationen dürfte den Frauen verwehrt werden.

Deshalb ist die Bevölkerungsprojektion der Vereinten Nationen für Afghanistan mit Vorsicht zu betrachten. Sie nämlich geht davon aus, dass die Geburtenziffern wie in fast allen Entwicklungsländern weiter zurückgehen und zwar bis 2055 auf 2,1 Kinder je Frau. Dies ist der sogenannte Erhaltungswert, ab dem eine Bevölkerung mittelfristig aufhört zu wachsen. Unter diesen Bedingungen würde die Bevölkerung des Landes bis 2050 „nur“ auf 65 Millionen anwachsen und um das Jahr 2085 ihren Maximalwert von 77 Millionen erreichen. Das wären bis Mitte des Jahrhunderts 5 Millionen weniger als in der oben zitierten PRB-Vorausschätzung.

Der vergleichsweise optimistische UN-Ausblick baut auf einer Fortschreibung der jüngeren Vergangenheit. Denn auch in Afghanistan sind die Kinderzahlen je Frau gesunken. Noch bis zur Jahrtausendwende lag die Geburtenziffer stabil bei über 7 Kindern je Frau, der heutige Wert von 4,3 ist also bereits ein Erfolg.

Dazu beigetragen haben mit Sicherheit die 20 Jahre unter der dem Einfluss der Westallianz, als Nicht-Regierungs-Organisationen zahlreiche Entwicklungsprojekte auf die Beine stellen konnten. Diese Phase war für afghanische Verhältnisse politisch vergleichsweise stabil, Schulen und Gesundheitsdienste konnten halbwegs ihren Betrieb aufrechterhalten und die meisten Mädchen sogar in den entlegensten Tälern zur Schule gehen. Und es flossen Abermilliarden Euro an Hilfsgeldern in das Land. Dass es eine „gute“ Zeit für Afghanistan war, belegt die Kindersterblichkeit: War im Jahr 2000 noch für etwa 130 von 1.000 Kindern das Leben vor dem fünften Geburtstag beendet, so liegt dieser Wert mittlerweile bei etwa 60. Das ist eine deutliche Verbesserung, ist aber noch weit entfernt von der Kindersterblichkeit in einem hoch entwickelten Land wie Deutschland, wo nur noch 4 von 1.000 Kindern sterben, bevor sie fünf Jahre alt sind.

Mit dem Abzug der meisten ausländischen Partnerorganisationen und dem weitgehenden Ende der westlichen Entwicklungszusammenarbeit dürften die vorübergehenden Fortschritte zum Erliegen kommen. Die Islamisten an der Macht werden die Programme, etwa zur Familienplanung und zur Mädchenbildung, kaum weiterführen, es fehlen der Wille dazu, das Geld und die entsprechende Expertise. Und das bedeutet, dass die Bevölkerung weiter stark wachsen wird und die künftigen Entwicklungschancen Afghanistans noch schwieriger werden, als sie es heute schon sind.

24.08.2021

China in Afrika

Entwicklungshelfer oder neue Kolonialmacht?

Die Geschichte der jahrzehntelangen westlichen Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika ist schnell erzählt: Viel Aufwand – wenig Erfolg. Auch der vor wenigen Jahren vom zuständigen deutschen Minister ausgerufene „Marshallplan für Afrika“ oder der „Compact with Africa“ des Finanzministeriums, die Jobs für die zahlreichen jungen Menschen schaffen und deutsche Unternehmen zu Investitionen zwischen Tunesien und Südafrika treiben sollten, haben bestenfalls überschaubare Erfolge zu verzeichnen.

De facto ist Afrika nach wie vor der mit Abstand am wenigsten entwickelte Kontinent der Welt. Die Zahl der krisenhaften und gescheiterten afrikanischen Staaten nimmt zu, die Nahrungsmittelversorgung ist unzureichend und das hohe Bevölkerungswachstum macht die Lösung der vielfältigen Probleme nicht eben leichter. Die Hälfte der Menschen in Afrika muss noch immer ohne Stromanschluss auskommen und gerade mal 31 Prozent der Jugendlichen erreichen einen Sekundarschulabschluss (oft fragwürdiger Qualität), der heutzutage als Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufskarriere in einer globalisierten Welt gilt.

Hat da, angesichts der ernüchternden West-Bilanz, nicht China die besseren Ideen für Entwicklung? Immerhin hat die mittlerweile zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt wie kein zweites Land eigene Erfahrung damit, wie ein rückständiges Land zu einer Aufsteigernation werden kann. Es hat seit 1990 über 700 Millionen Menschen aus der absoluten Armut geholt und liegt in vielen Forschungsbereichen gleichauf mit den USA. Die viel gefeierten Erfolge der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen gehen vor allem auf die Fortschritte in China zurück. Seit Jahren versucht das Land auch die Entwicklung in Afrika voranzutreiben.

Keiner investiert mehr

China hat dort Investitionen in Höhe von vielen hundert Milliarden US-Dollar geleistet und ist gegenwärtig in zahllosen Infrastrukturprojekten engagiert, vor allem in rohstoffreichen Ländern wie Nigeria, Angola oder Sudan. Die neuen Entwicklungshelfer aus Asien haben Straßen und Häfen geplant, finanziert und gebaut, Stromleitungen, Kraftwerke, Pipelines, Eisenbahnen oder Flughäfen aus dem Boden gestampft, und zwar in einer Geschwindigkeit, die jeden deutsche Planer erblassen ließe. Damit konnten die notorischen Versorgungslücken auf dem afrikanischen Kontinent zumindest teilweise geschlossen werden. Man könne behaupten, dass jedes größere Bauprojekt in Afrika, das höher als drei Stockwerke aufragt, oder jede Straße mit mehr als drei Kilometern Länge von Chinesen gebaut oder geplant ist, meint Daan Roggeveen, der Co-Gründer von More Architecture, einem internationalen Planungsbüro mit Sitz in Amsterdam und Shanghai.

Zu den größten laufenden sino-afrikanischen Projekten zählen der 3.200 Kilometer lange Trans-Maghreb-Highway, der 55 größere nordafrikanische Städte miteinander verbinden soll; das Mambilla-Kraftwerk, das von 2030 an über 3.000 Megawatt Elektrizität aus vier Staudämmen des Dongo-Flusses in Nigeria liefern soll; oder eine Schnellstraße, die das verträumte kenianische Touristenparadies Lamu mit Äthiopien und Südsudan verbinden soll, ergänzt durch einen Tiefseehafen und eine Pipeline, über die einmal südsudanesisches Erdöl in die wartenden Riesentanker fließen wird. Die Beratungsfirma Deloitte schätzt, dass China im Jahr 2020 rund ein Drittel aller afrikanischen Infrastrukturprojekte kontrollierte, in Ostafrika sogar die Hälfte. Afrikanische Regierungen schätzen chinesische Projekte vor allem, weil sie äußerst zügig umgesetzt werden.

Nicht ohne Eigeninteressen unterwegs

Das alles tut China nicht aus reiner Nächstenliebe. Erstens gibt es die Bauprojekte nicht umsonst, sondern in der Regel gegen Kredit. Und zweitens kommen bei den Unternehmungen meist nur chinesische (Staats)-Unternehmen und in der Regel nur chinesische Fachkräfte zum Einsatz. Studien der SOAS Universität in London zufolge sind für die tatsächliche Arbeit auf den Baustellen allerdings überwiegend einheimische Kräfte beschäftigt, vor allem, weil es mittlerweile zu teuer geworden ist, auch gering qualifizierte Mitarbeiter aus China zu rekrutieren.

Daneben verspricht jedes ausländische Engagement in Afrika hohe Gewinne. Denn trotz der weit verbreiteten Armut entsteht in vielen afrikanischen Staaten eine neue konsumfreudige Mittelschicht, die offen für alle Gebrauchs- und auch Luxusgüter ist, von denen ein großer Teil den Aufdruck „Made in China“ trägt. Der Markt ist gewaltig, denn Afrika ist mit so gut wie allen Gütern unterversorgt und Chinas Industrie verzeichnet große Überkapazitäten. Tatsächlich finden sich überall in Afrika Läden, in denen sich die chinesischen Produkte bis zur Decke stapeln, in denen nur chinesisches Personal unterwegs ist und die Kasse manchmal sogar Renminbi-Preise ausspuckt, während die kleinen einheimischen Geschäfte, wo es vielerorts kaum mehr als Kerosin, Dosenkonserven, Zigaretten und Bratfett zu kaufen gibt, nach und nach verschwinden. Kein Wunder, dass China längst der größte Handelspartner des Kontinents ist mit einem jährlichen Exportvolumen von über 200 Milliarden US-Dollar.

Das Vordringen Chinas erinnert viele Beobachter an die Kolonialzeit im 19. und 20. Jahrhundert, als europäische Mächte afrikanische und asiatische Länder ihr Eigen nannten, dort eigene Billigprodukte absetzten und im Gegenzug wertvolle Rohstoffe außer Landes holten. Nur dass China heute nicht einmal militärische Macht ausüben muss, sondern eine Abhängigkeit über Kredite schafft und so massiven Druck auf politische und kulturelle Entwicklungen ausüben kann.

Wie hoch sich die afrikanischen Länder für all die Investitionen gegenüber China verschuldet haben, ist nicht genau bekannt. Der Politikwissenschaftlerin Deborah Bräutigam von der amerikanischen Johns Hopkins Universität zufolge haben sich die Kredite allein zwischen 2000 und 2015 auf knapp 100 Milliarden US-Dollar summiert. Seither sind sie weiter stark gestiegen.

Welche Abhängigkeit sich daraus ergeben kann, hat kürzlich Ching Kwan Lee, Sozialwissenschaftlerin von der Universität von Kalifornien in Los Angelos auf der Konferenz „Asia and Africa in Transition“ in Kopenhagen am Beispiel Sambia berichtet. Seit 2007 hat sie dort den chinesischen Einfluss in der Minen- und Bauwirtschaft erforscht, mit Politikern, Unternehmern, Gewerkschaftlern, einheimischen und chinesischen Bergarbeitern gesprochen und an Verhandlungen von indischen, chinesischen und Schweizer Bergbaumultis mit der sambischen Regierung teilgenommen.

Sambia ist für China interessant, weil dort das größte afrikanische Kupferabbaugebiet liegt und das Land weitere wertvolle Rohstoffe wie Kobalt birgt. Weil das ostafrikanische Land über keinen eigenen Seezugang verfügt, sind gute Verkehrsverbindungen über Schiene und Straße umso wichtiger. Den Bau der Infrastrukturen haben im Wesentlichen chinesische Unternehmen übernommen, mit der Folge, dass sich die Auslandschulden des Landes während Lees Forschungen versiebenfacht haben. Und weil die Firmen schon mal am Werke waren, haben sie gleich noch zwei ultramoderne Fußballgroßstadien dazu gebaut (eines davon im Heimatort des ehemaligen Präsidenten, zum Teil auf Kredit, teilweise auch als milde Gabe aus Fernost). „Stadion-Diplomatie“ nennt sich diese Form der indirekten Einflussnahme Chinas auf afrikanische Länder. In 27 Staaten, von Angola bis Uganda stehen mittlerweile zum Teil mehrere dieser als Sportstätten verkleideten trojanischen Pferde.

Und stetig entstehen in Sambia neue Bauprojekte, wobei der Zuschlag fast immer nach China geht, etwa für das 750-Megawatt Kafue Gorge Lower-Kraftwerk, für den Simon Mwansa Kapwepwe- Flughafen in der Kupfergürtel-Region, der künftig jährlich eine Million Fluggäste abfertigen kann oder für die Erweiterung des Kenneth Kaunda-Flughafens in der Hauptstadt Lusaka. Ob das Land, in dem 58 Prozent aller Menschen unter der Armutsgrenze von umgerechnet 1,9 US-Dollar am Tag leben müssen, und das beim Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen auf Rang 146 von 189 Ländern rangiert, all diese Prestigebetonbauten braucht und ob breite Bevölkerungskreise davon etwa haben, ist eine andere Frage.

Ab in die Schuldenfalle

Sambia-Kennerin Ching Kwan Lee jedenfalls ist der Meinung, dass von den chinesischen Aktivitäten vor allem die sambischen Eliten profitieren, dass chinesische Unternehmer sich sambische Wettbewerber mit unlauteren Methoden vom Halse halten, dass durch die hohen Geldflüsse die Korruption blüht und die Menschenrechtsverletzungen zugenommen haben. Kritiker in der sambischen Regierung, die gegen die massive Verschuldung für fragwürdige Projekte aufbegehren, wie der ehemalige Informations- und Rundfunkminister Chishimba Kambwili, mussten rasch ihren Posten räumen und wurden aus der Regierungspartei ausgeschlossen.

Vor allem können die gewaltigen Kreditsummen in eine fatale Schuldenabhängigkeit führen. China ist bekannt dafür, dass es sich beziehungsweise chinesischen Firmen bei Zahlungsausfall ganze Infrastrukturen übereignet. Zum Beispiel in Sri Lanka, wo China den mit Krediten gebauten Hafen Hambantota kurzerhand einkassierte, beziehungsweise für 99 Jahre unter Zwangspacht stellte. Ähnliche Maßnahmen drohen Pakistan oder Bangladesch, Länder, die ihre eigenen Infrastrukturprojekte kaum selbst stemmen können und sich ebenfalls in die Schuldenabhängigkeit gegenüber China begeben haben. In Afrika haben sich etwa Äthiopien beim Bau der Eisenbahnlinie Addis Abeba-Djibouti oder Kenia bei der Strecke Nairobi-Mombasa verhoben. Beide Projekte wurden deutlich teurer als erwartet, sind überwiegend von China finanziert und trieben die Länder in die Schuldenfalle

Das Gleiche kann Sambia passieren, das 2020 erstmals seine Rückzahlungen an internationale Gläubiger nicht mehr aufbringen konnte. Die Wirtschaft des rohstoffreichen Landes wächst kaum, die Einkommen sinken und die Arbeitslosigkeit steigt. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist so groß, dass bei der Präsidentenwahl im August 2021 überraschenderweise der Oppositionskandidat Hakainde Hichilema gegen den Regierungschef und Chinavertrauten Edgar Lungu einen haushohen Sieg einfuhr. Lungu wird unter anderem für die Misswirtschaft und weit verbreitete Korruption verantwortlich gemacht wird. Wie gut sich der neue Präsident gegen den chinesischen Einfluss durchsetzen kann, bleibt abzuwarten.

Ist das der neue Kolonialismus?

Ob das übermächtige China sich in Sambia, anderenorts in Afrika oder sonst wo auf der Welt tatsächlich als Neokolonialmacht aufführt, ist unter Wissenschaftlern umstritten, vor allem, weil es, anders als die klassischen Kolonialmächte, ohne militärische Präsenz auskommt. Auch Ching Kwan Lee ist in ihrer Einschätzung gespalten. Einerseits entstehen mit Hilfe Chinas Vorhaben, von denen andere Förderer in der Vergangenheit nur träumen konnten. Andererseits geht China bei seiner Entwicklungs-„hilfe“ ziemlich ruppig vor. Aber unterm Strich passiert wenigstens etwas, sagt die Wissenschaftlerin: „Die Europäer, die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds brauchen Jahre, bis sie die notwendigen Statistikunterlagen für eine Kreditvergabe zusammenhaben, sie wollen bis hin zu Genderfragen im Land alles wissen und bekommen dann am Ende eben einen Haufen gefälschte Daten. China interessiert sich dafür nicht. Alles geht viel schneller. Und China kann erfahrungsgemäß gut mit korrupten afrikanischen Regierungen zusammenarbeiten.“

13.07.2021

Kollision globaler Großprobleme

Wo Bevölkerungswachstum, Wassermangel und Klimawandel aufeinandertreffen, drohen neue Konflikte

Eigentlich ist das eine gute Nachricht: Äthiopien hat mit der einsetzenden Regenzeit im Juli die vor einem Jahr begonnene Flutung des „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ fortgesetzt. Die gewaltige Talsperre im Nordwesten des Landes soll das Wasser des Blauen Nils aufstauen und dem immer noch sehr armen Land am Horn von Afrika einmal 6.000 Megawatt regenerativ erzeugte Elektrizität liefern. Das ist vermutlich mehr als Äthiopien selbst verbraucht, so dass auch die Nachbarländer Sudan und Ägypten etwas von dem Strom abbekommen können und dem Lieferanten wichtige Devisen zufließen. Äthiopien hätte mit der Talsperre das größte Kraftwerk Afrikas und wäre mit dieser Art der Stromerzeugung eines der klimafreundlichsten Länder der Erde.

Doch ganz so rosig sind die Zukunftsaussichten der Region nicht. Denn hier kollidieren drei globale Megatrends, die einen Streit um das Wasser geradezu provozieren: Bevölkerungwachstum, Wassermangel und Klimawandel. Nach Nigeria gehören Äthiopien und Ägypten zu den drei menschenreichsten Ländern Afrikas, mit derzeit 117 respektive 102 Millionen Einwohnern, aus denen bis zum Jahr 2050 209 respektive 158 Millionen werden dürften. Zusammen mit dem Sudan kommen Äthiopien und Ägypten bereits heute auf 264 Millionen. Vermutlich werden es Mitte des laufenden Jahrhunderts 448 Millionen sein. Das wären etwa so viele, wie dann in den heutigen 27 Ländern der EU leben werden.

All diese Menschen brauchen Wasser. Für die Stromerzeugung und vor allem für die Landwirtschaft, die erhebliche Produktionssteigerungen liefern muss, um die Ernährung der Menschen zu sichern. Ohne künstliche Bewässerung ist das nicht möglich. Bisher versorgen die Bauern in Ägypten und Sudan ihre Felder fast ausschließlich mit Wasser aus dem Blauen Nil, der im äthiopischen Hochland entspringt – und jetzt aufgestaut wird. Der Weiße Nil, der sich in der sudanesischen Hauptstadt mit seinem blauen Nebenfluss vereint und seine Fracht aus den zentralafrikanischen Bergen Ruandas, Burundis, Kongos und Ugandas bezieht, bringt vergleichsweise wenig Wasser mit.

Ägypten und Sudan sind damit auf das Nass eines Flusses angewiesen, der aus einem Nachbarland stammt, denn auf ihren eigenen Territorien fällt so gut wie kein Niederschlag, der es bis in den Nil, den größten Fluss Afrikas schafft. Beide Länder bestehen größtenteils aus Wüste. Die Landwirtschaft findet praktisch nur auf einem wenige Kilometer breiten Streifen entlang der Flüsse statt. Dort leben auch 95 Prozent der Einwohner, was den bewohnten Gebieten eine Menschendichte beschert, die dreimal so hoch ist wie in den Niederlanden.

Schon 1997 war die Wasserverfügbarkeit in Ägypten unter den Wert von 1.000 Kubikmeter je Person und Jahr gefallen, was international als Grenzwert für Wassermangel gilt. Bis 2030 ist aufgrund des Bevölkerungswachstums zu befürchten, dass für jeden Menschen in Ägypten nur noch 500 Kubikmeter zur Verfügung stehen, das entspräche der Definition eines Wassernotstands. Kein einwohnerstarkes Land der Welt ist so abhängig von Wasser, das aus dem Ausland zuströmt. Und jetzt beginnt mit der Befüllung des fünf Milliarden Dollar teuren Grand Ethiopian Renaissance Dam eine neue Knappheit. Denn es vergehen 5 bis 15 Jahre, bis der Stausee vollständig gefüllt ist und in dieser Zeit dürfte der Blaue Nil bis zu einem Viertel seines Fließvolumens verlieren. Zudem werden auch äthiopische Bauern dem Stausee Wasser entnehmen, um ihre Felder zu bewässern, denn die dortige Bevölkerung erwartet ebenfalls eine deutliche Produktionssteigerung.

Der Klimawandel dürfte den Wassermangel in den drei Ländern weiter verschärfen. Klimasimulationen für die Region lassen vermuten, dass sich die Unterschiede zwischen trockenen und feuchten Jahren erhöhen werden. Die jährliche Durchflussmenge des Nils könnte deshalb im 21. Jahrhundert um 50 Prozent stärker variieren als im Jahrhundert zuvor. Generell dürften sich die Niederschlagsmengen in den drei Ländern eher verringern als erhöhen. Steigende Temperaturen bedeuten zudem höhere Verdunstungsraten auf bewässerten Feldern und die Gefahr einer Bodenversalzung. Ein steigender Meeresspiegel bedroht darüber hinaus das dicht besiedelte und landwirtschaftlich intensiv genutzte Nildelta, das schon heute unter Erosion und Unterspülung sowie einer Versalzung des Grundwassers durch eindringendes Meerwasser leidet.

Sudan und Ägypten haben seit dem Baubeginn des Stausees im Jahr 2011 gegen das Projekt protestiert und nun verärgert auf die wieder gestartete Befüllung des äthiopischen Wasserspeichers reagiert. Alle Versuche, den Konflikt über internationale Verhandlungen zu lösen, sind bislang gescheitert. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat in der Vergangenheit das Nilwasser zu einer Frage von Leben und Tod erklärt und dem Nachbarn im Südwesten wiederholt mit Krieg gedroht. Das allerdings wäre das Letzte, was die krisengeschüttelte und von ethnischen Konflikten geplagte Region noch brauchen könnte. Mehr Wasser jedenfalls kann kein Krieg liefern.

09.07.2021

Schlechte Nachrichten zum Weltbevölkerungstag

Die Zahl der Menschen auf einem begrenzten Planeten wächst und wächst in konstantem Tempo obwohl sich das Wachstum stark verlangsamt hat. Wie kann das sein?

Vor 33 Jahren, am 11. Juli 1987, haben die Vereinten Nationen den Weltbevölkerungstag ausgerufen. An diesem Tag, so die UN-Statistiker, hatte die Menschheit die Fünf-Milliarden-Hürde genommen. Rund 80 Millionen kamen in jenem Jahr hinzu und es grassierte die Sorge, dass anhaltendes Bevölkerungswachstum auf einem begrenzten Planeten irgendwann zu Problemen führen würde.

Die Furcht vor zu vielen Menschen hat sich seither eher verflüchtigt. Denn über viele Jahre haben sich die Lebensbedingungen in den allermeisten Ländern verbessert. Alle Probleme schienen lösbar. Weltweit ist die Kindersterblichkeit zurückgegangen. Die Einschulungsraten für Kinder sind gestiegen. Die globale Nahrungsmittelproduktion hat sich seit 1970 etwa verdreifacht, während sich die Weltbevölkerung seither „nur“ verdoppelt hat. Infektionskrankheiten wie Malaria oder HIV/Aids werden zurückgedrängt. Die Lebenserwartung, der vermutlich beste Querschnittsindikator für das Wohlergehen der Menschen, steigt fast überall. Die Vereinten Nationen vermelden, dass ein Durchschnittsleben inzwischen fast 73 Jahre währt. Im Jahr 1900 war im Mittel noch mit 30 Jahren Schluss mit dem Dasein.

Vor allem hat sich die Zahl der Kinder, die eine Durchschnittserdenbürgerin im Laufe ihres Lebens bekommt, in den vergangenen 50 Jahren halbiert, von knapp fünf auf mittlerweile 2,4. Das liegt bereits nahe an jenem „bestandserhaltenden“ Wert von 2,1 Kindern je Frau, bei dem eine Bevölkerung mittelfristig aufhört zu wachsen. Auch das relative Wachstum der Weltbevölkerung ist mit etwas über einem Prozent nur noch halb so hoch wie 50 Jahre zuvor. Tendenz: weiter sinkend. Auf den ersten Blick deutet somit alles auf ein baldiges Ende des Bevölkerungswachstums hin.

Doch auf den zweiten Blick offenbart sich hier ein arithmetischer Denkfehler. Denn das gegenüber den 1960er Jahren halbierte Wachstum findet mittlerweile auf der Basis der doppelten Anzahl von Menschen statt. Und das bedeutet: Das relative Wachstum nimmt zwar ab, aber das absolute hält sich weiterhin auf dem gleichen, hohen Niveau. Tatsächlich wächst die Zahl der Menschen seit den 1960er Jahren, als die Furcht vor einer Bevölkerungsexplosion grassierte, kontinuierlich um 70 bis 90 Millionen pro Jahr, im Schnitt um über 80 Millionen. 2019 hat sich die Menschheit um 81,3 Millionen Häupter vermehrt, was etwa der Einwohnerzahl Deutschlands entspricht. Oder um 15 Menschen in jenen sechs Sekunden, die nötig sind, um diesen kurzen Satz zu lesen. Im kommenden Jahr überschreitet die Menschheit aller Voraussicht nach die Acht-Milliarden-Schwelle. Bis Mitte des Jahrhunderts rechnen die Vereinten Nationen mit einer Zahl von 9,5 bis 10 Milliarden. Von Entwarnung an der Wachstumsfront kann somit nicht die Rede sein.

Das anhaltende Wachstum bedeutet, dass es mit jedem neuen Jahr über 80 Millionen Menschen zusätzlich zu versorgen gilt – mit Gesundheitsdiensten, Schulen, Nahrungsmitteln, mit einem Dach über dem Kopf und vor allem mit Arbeitsplätzen und einem Einkommen, das es erlaubt ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber das fällt gerade in jenen Ländern, in denen sich das globale Bevölkerungswachstum konzentriert, in Westasien, den Nahen Osten und vor allem in Afrika südlich der Sahara, immer schwerer. Dort nimmt, entgegen dem langjährigen weltweiten Trend, die Zahl der Hungernden zu, ebenso die Zahl der Kinder, die keine Schule besuchen können. Für das Jahr 2019 schätzte die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die Zahl der Hungernden auf 690 Millionen, das waren immerhin 8,9 Prozent der Weltbevölkerung. Die Covid-19-Pandemie dürfte diese Zahl noch einmal verdoppelt haben. Weil die vielen jungen Menschen oft keine Zukunftschancen für sich sehen, wächst die Frustration, die sich in sozialen und politischen Unruhen entlädt, bis hin zu Bürgerkriegen, Terror und Vertreibung. Nachhaltig ist dieses Bevölkerungswachstum in den armen Ländern nicht.

Der Klimawandel, die Folge des ebenso wenig nachhaltigen Lebensstils in den reichen Ländern, wird diese Probleme weiter deutlich verschärfen. Die Bauern in den wenig entwickelten Ländern können sich immer weniger darauf verlassen, dass der Regen zur richtigen Zeit und in der richtigen Menge fällt. Und mit der prognostizierten Erwärmung werden unberechenbare Stürme, Schädlingsinvasionen und andere Naturkatastrophen wahrscheinlicher. All das ist kein Grund zum Feiern am Weltbevölkerungstag.

Mehr zum Thema hier: Zu viel für diese Welt – Wege aus der doppelten Überbevölkerung. Edition Körber, 2021.

06.07.2021

Nahrung für eine volle Erde

Die Weltbevölkerung wächst nach wie vor um etwa 80 Millionen pro Jahr. Rund um den Globus erodieren Ackerflächen. Der Klimawandel macht es vielen Landwirten immer schwerer. Wir lassen sich bald schon zehn Milliarden Menschen mit Nahrung versorgen?

Natürlich wäre es möglich, die gesamte Menschheit von nahezu acht Milliarden Menschen angemessen zu ernähren. Dafür müsste man lediglich verhindern, dass ein Viertel der Feldfrüchte auf dem Weg vom Acker zum Teller vergammelt und weggeworfen wird, dass Rinder, Schweine und Hühner nicht ein gutes Drittel der weltweiten Getreideernte und fast die komplette Sojaproduktion fressen, von denen eigentlich auch Menschen leben könnten, dass Nahrungspflanzen in der Biogas- und Biotreibstofferzeugung landen und dass Terror und Konflikte die Arbeit der Bauern behindern. Theoretisch wäre all das möglich. Genauso wie es theoretisch möglich wäre, den Klimawandel bei 1,5 Grad Erwärmung zu stoppen oder die Vermüllung der Ozeane zu begrenzen.

Dummerweise sieht die Praxis anders aus: Noch immer nimmt der Dreck in den Weltmeeren zu, während die Fischbestände schwinden. Die erdnahen Luftschichten dürften sich, allen Lippenbekenntnissen der Klimapolitik zum Trotz, nach Stand der tatsächlichen Maßnahmen im Mittel auf zwei bis drei Grad erhitzen. Und weltweit mussten sich im Jahr 2019 jeden Abend rund 700 Millionen Menschen hungrig zum Schlafen legen. Sie hatten pro Tag weniger als 1.800 Kilokalorien zur Verfügung und galten damit als unterernährt. Covid-19 hat die Krise noch verstärkt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass heute über 270 Millionen vom Hungertod bedroht sind, doppelt so viele wie vor der Pandemie. Zum Vergleich: Ein Durchschnittsbewohner Deutschlands verzehrt rund 3.500 Kilokalorien am Tag. Dafür gilt über die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig.

Die Reichen der Welt laden sich ihre Teller also deutlich voller als die Armen, mit Nahrung, die irgendwo erzeugt werden muss. Rund die Hälfte der bewohnbaren Erdoberfläche wird dafür landwirtschaftlich genutzt, ein Drittel der Böden ist bereits degradiert, was die Nahrungsproduktion einschränkt.

Hinzu kommt, dass die Zahl der Menschen seit rund 50 Jahren mehr oder weniger konstant um 80 Millionen pro Jahr wächst, was ungefähr der Einwohnerschaft Deutschlands entspricht. 2050 dürfte es annähernd zehn Milliarden Erdenbewohner geben. Der Zuwachs findet fast ausschließlich in den wenig entwickelten Ländern statt, in Westasien und vor allem in Afrika südlich der Sahara, also dort, wo schon heute die meisten Unterernährten leben.

Die doppelte Überbevölkerung

In den betroffenen Ländern, in denen es nicht gelingt, die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen, nicht nur mit Nahrung, sondern auch mit Gesundheitsdiensten, Schulen und Jobs, kann man getrost von einer Überbevölkerung sprechen, denn diese Situation ist mittelfristig nicht tragbar. Aber es gibt noch eine andere Form der Überbevölkerung und die ist noch weniger nachhaltig. Sie zeigt sich dort, wo die Zahl der Menschen kaum noch oder gar nicht mehr wächst – in den wohlhabenden, weit entwickelten Ländern wie Deutschland. Dort verbrauchen die Menschen deutlich mehr Rohstoffe, als die Umwelt im gleichen Zeitraum nachliefern kann und sie hinterlassen mehr Müll in jeder Form, als die natürlichen Kreisläufe schadlos aufnehmen können. Das Kohlendioxid aus dem Verbrennen fossiler Brennstoffe ist das prominenteste, aber längst nicht einzige Beispiel dafür. Kohle, Öl und Erdgas sind das Fundament unseres heutigen Wohlstands. Sie befeuern aber den Klimawandel. Der wiederum wirkt sich dort am schlimmsten aus, wo die Bevölkerungen stark wachsen und die Menschen zu wenig zu essen haben.

Wie sollen unter diesen Bedingungen in gerade mal 29 Jahren zehn Milliarden Menschen ernährt werden? Zunächst gilt es zu verhindern, dass es tatsächlich zehn und längerfristig noch mehr Milliarden werden. Wie sich das Bevölkerungswachstum auf menschenfreundliche Weise eindämmen lässt, ist hinlänglich bekannt: Überall, wo sich die Gesundheitsversorgung verbessert hat und die Kindersterblichkeit gesunken ist, realisieren die Menschen, dass es besser ist die Familiengröße zu begrenzen. Wo sich Bildung ausbreitet, insbesondere unter Mädchen, und wo Frauen mehr Rechte erlangen, sinken die Kinderzahlen rapide. Und wo auskömmliche Arbeitsplätze entstehen, wo die Menschen ihre Zukunft planen können, gewinnt die Familienplanung an Bedeutung.

Damit wäre, zumindest mittelfristig, die eine Form der Überbevölkerung unter Kontrolle – aber das nächste Problem auf dem Tisch. Denn sobald sich der Wohlstand in den armen Ländern ausbreitet, was das erklärte Ziel von Entwicklung ist, wächst der Hunger nach höherwertigen tierischen Lebensmitteln wie Milch und Fleisch. Unter diesen Bedingungen müssten bis 2050 nach Berechnungen des amerikanischen World Resources Institute im Vergleich zu 2010 rund 56 Prozent mehr Agrarkalorien produziert werden und nicht 40 Prozent, was dem reinen Anstieg der Weltbevölkerung entspräche. Ohne weitere Umweltschäden ist das nicht zu machen.

Um das zu vermeiden und trotzdem mehr Nahrungsmittel zu produzieren, muss sich in den wenig entwickelten Ländern eine neue Form der Landwirtschaft etablieren. Sie muss höhere Erträge liefern, aber ohne dabei Schaden anzurichten. Bislang fahren die Bauern vor allem in Afrika Ernten ein, die weit unter dem liegen, was möglich wäre. Afrikas Landwirtschaft liegt überwiegend in den Händen kleiner Betriebe, die in mühseliger Handarbeit im Wesentlichen für die eigene Familie und nicht für den Markt produzieren. Sie bleiben arm, haben keinen Zugang zu Kapital, zu zertifiziertem Saatgut, zu Dünger, Maschinen und anderen produktionssteigernden Mitteln. Und ihnen fehlt das Fachwissen für eine moderne und umweltschonende Landwirtschaft.

„Nachhaltige Intensivierung“ heißt das Zauberwort, mit dem sich dies ändern ließe. Dabei dürfen sich afrikanische Bäuerinnen und Bauern nicht an der industriellen Produktionsweise europäischer oder amerikanischer Agrarbetriebe orientieren. Diese erreichen zwar erhebliche Erträge, aber auf Kosten der Umwelt und des Weltklimas. Sie verbrauchen extrem viel Wasser, stoßen enorme Mengen an Treibhausgasen aus, belasten mit ihrer Düngung Grundwasser, Seen, Flüsse und dezimieren mit chemisch-synthetischen Schädlings- und Unkrautvernichtungsmitteln die Artenvielfalt. Ähnliche Fehlentwicklungen gab es auch in den einstigen asiatischen Entwicklungsländern im Rahmen der Grünen Revolution.

Afrika braucht deshalb eine „grünere“ Grüne Revolution. Die Landwirte sollten dafür mehr in Misch-, als in Monokulturen arbeiten, also etwa Getreide mit Hülsenfrüchten kombinieren, die eigenständig Stickstoffdünger liefern können. Sie sollten das kostbare Wasser effizienter nutzen und klimaangepasstes, qualitätsgeprüftes Saatgut verwenden, konventionell gezüchtetes wie auch solches, dessen Erbgut mithilfe von „Genscheren“ punktgenau verändert ist. Die Pflanzen, die daraus wachsen, können beispielsweise Parasiten und Fraßinsekten aus eigener Kraft abwehren und benötigen weniger oder gar keine Pestizide. Notwendig ist verbessertes Saatgut auch bei bisher von der Züchtungsforschung vernachlässigten Feldfrüchten wie Hirse, Yams oder Maniok. Diese werden zwar nicht weltweit gehandelt, gehören aber in vielen Ländern zur Basisernährung.

Und die Bauern können von der Digitalisierung profitieren. Schon das allgegenwärtige Handy hat der Landwirtschaft einen enormen Entwicklungsschub gegeben. Afrikanische Landwirte lassen sich mobil beraten und schließen Ernteausfallversicherungen ab. Sie können mit einfachen Sensoren Feuchtigkeit, Säuregrad und Nährstoffgehalt der Böden messen und so Präzisionsfeldbau betreiben. Sie profitieren von Unternehmen wie dem kenianischen „Hello Tractor“, einer Art Uber für Landmaschinen, das Traktoren und andere Gerätschaften samt Fahrer auf mobile Anfrage bereitstellt und den Gebrauch per GPS-Ortung minutengenau abrechnet.

Bleibt in dem großen Klima- und Bevölkerungspuzzle die Frage, wie sich die zweite, die konsumbedingte Überbevölkerung der reichen Länder bewältigen lässt. Sicher ist, dass weder die Agrarproduktion noch die Ernährungsgewohnheiten der dortigen Bevölkerungen ein Beispiel für den ganzen Planeten sein können. Würden alle Menschen nach diesem Muster leben, würde der Klimawandel entgleisen, die letzten Naturräume stünden vor dem Ende.

Natürlich könnten sich die Menschen in den wohlhabenden Ländern im Sinne des Klimaschutzes und der globalen Gerechtigkeit mäßigen. Sie wissen um die Probleme ihrer Lebensweise. Sie könnten ihr Verhalten entsprechend verändern – zumindest theoretisch.

 

Mehr zum Thema in dem Buch: „Zu viel für diese Welt – Wege aus der doppelten Überbevölkerung“, Edition Körber, Hamburg 2021.

© Copyright Alle Fotos: Reiner Klingholz